Wissenschaft ist keine Verdachtshermeneutik – die Fragen vor Halal und Haram

Ein Debattenbeitrag von Muhammed F. Bayraktar

Ich bedanke mich bei der Alhambra Gesellschaft für die Möglichkeit eines solchen Diskurses. Es ist wichtig, dass Muslime einen Dialog auf dieser Ebene führen. Kurnaz Beitrag liegt länger her und ich bedanke mich bei Hakkı Arslan, dass er den Beitrag von Kurnaz kommentierte und seinen Standpunkt als respektierter Wissenschaftler präsentierte. Kurnaz geht es kurz gefasst darum, dass die Welt komplizierter und der einzelne Mensch vielschichtiger ist, als es die Normenlehre der Gelehrsamkeit erfassen könnte. Ihm scheint es im Kern darum zu gehen, dem einzelnen Menschen mehr Raum zu geben für sein eigenes religiöses Empfinden von Richtig und Falsch. Hakkı Arslan scheint sich aber bei seinem gesamten Beitrag darauf zu konzentrieren, dass Kurnaz die ideengeschichtliche Entwicklung als eine bewusste Inkettenlegung der eigenen theologischen Freiheiten zu bezeichnen scheint. Arslan und Kurnaz sprechen im Großen über zwei unterschiedliche Themen und mir ist aufgrund der unterschiedlichen Hintergründe zwar ersichtlich, wieso sich Arslan auf einen kleinen Abschnitt des Textes konzentriert, aber den Rest des Textes von Kurnaz ignoriert. So führt Arslan die Niedergangsthese an, gemäß der die Gelehrsamkeit ab einem bestimmten Punkt stagniert habe und der ideengeschichtliche Fortschritt ein Ende fand. Er liest dies aus Kurnaz Schrift. Dies ist aber aus meiner Sicht für die Argumentation von Kurnaz gar nicht von Bedeutung. Des Weiteren fordert Arslan der Tradition gegenüber Vertrauen und sieht sie als ein wichtiges Werkzeug. Sie müsse genutzt werden und dürfe nicht in ihrer Gänze in Frage gestellt werden. Unklar bleibt, was Hakkı unter Tradition im muslimischen Kontext versteht. Er spricht zwar von den Rechtsschulen, aber die Rechtsschulen als Synonym für die Tradition zu betrachten, ist an sich problematisch. Allerdings werde ich auf diesen Punkt in meinem Text nicht eingehen. Ich verstehe unter dem Begriff in diesem Kontext Lehren, Satzungen und Institutionen der Gelehrsamkeit, die diese geformt und mündlich oder schriftlich weitergegeben haben.

Dennoch ist die in den Raum geworfene Niedergangsthese belanglos. Ob die Schulen der Normenlehre (madhahib) nun genug Kraft und Kohärenz aufweisen, um auf die Gegenwart zu antworten oder ob sie mit den Entwicklungen ihrer Zeit jenseits eines reinen Nachahmens mithalten konnten, spielt für diese Diskussion keine Rolle. Kurnaz geht es in seinem Beitrag gar nicht darum. Arslan aber schon. Ich denke aber, die Kernfrage, die beide übersehen (Kurnaz in seinem Beitrag weniger als Arslan), ist eine andere. Solange diese Frage nicht geklärt ist, ist jedwede Diskussion über den Wert von Tradition, Vertrauen und Gutgläubigkeit in ihre Ergebnisse Fehl am Platz. Diese Frage lautet: was ist „Islam“ und was ist „Muslim-sein“ und ist Islam nur oder überhaupt legalistisch zu denken?

Bevor ich auf diese Frage eingehe, möchte ich zuerst auf die von Arslan kritisierte und die von Arslan sogenannte „Verdachtshermeneutik“ eingehen. Traditionen im Allgemeinen, also nicht nur muslimische Traditionen, haben den Charakter einer Heilsgeschichte. Sie betreiben keine „Geschichte“, wie wir es im Sinne der heutigen Wissenschaft verstehen. Dadurch ergibt sich das Problem, dass die historischen Behauptungen der Traditionen eher sinnstiftender Natur sind und keine wissenschaftliche Geschichtsschreibung. Zwar sieht Arslan eine reine Verdachtshermeneutik nicht als gerecht gegenüber der komplexen Rechtstradition, aber es fehlt hier eine ausreichende Begründung, wieso dies der Fall sei. Dennoch finde ich, benötigt es gar keine sogenannte Verdachtshermeneutik. Wir müssen nicht von einer Verschwörung der einzelnen Akteure ausgehen. Eine solche Annahme wäre ja selbst fiktiv und würde viele unbegründete Prämissen voraussetzen. Was wir aber annehmen können, ist, dass die Akteure der Rechtsschulen späterer Zeit gewöhnliche Juristen, nicht groß anders als heute, waren. Vielleicht aufgrund geringer weltlicher und materieller Entwicklungen gab es bei ihnen keinen großen Drang, ihr bestehendes und geerbtes System zu überdenken oder weiterzudenken. Wie viele Rechtsanwälte beschäftigen sich denn beispielsweise heute mit solchen Fragen? Das wäre eine positive Haltung zur Geschichte, die auch anders betrachtet werden könnte. Wenige dieser Juristen weisen ein kritisches Verständnis dafür auf, wie dieses Erbe entstanden ist. Literatur im Sinne der „Geschichte der islamischen Rechtsgebung“ (tarikh taschri al-islami) tritt erst im späten 19. Jahrhundert/Anfang des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die orientalistische Geschichtsschreibung auf. Einer der ersten Autoren solcher Werke, Muhammad Khudari Bey, hatte mit seinem Werk die Überwindung der Strukturen der bestehenden Rechtsgelehrsamkeit intendiert. Vorher beschäftigten sich Rechtsgelehrte nicht mit Fragen bezüglich der Historizität bzw. der Ideengeschichte des Rechtes. Sie waren sich der Genese dieses Korpus nur rudimentär bewusst, wenn sie es denn überhaupt waren. Geschichtsbewusstsein, wie wir es heute als gegeben annehmen, dürfen wir nicht auf Menschen der Vormoderne projizieren. Das alles benötigt keine Verdachtshermeneutik. Anthropologische und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen genügen.

Skepsis ist aber Anbetracht der Behauptung der Tradition dort angemessen, wo diese von sich behauptet, eine adäquate Darstellung dessen zu sein, was Gott und sein Gesandter gerne gehabt hätten. Sie ist in ihrer Behauptung exklusivistisch, denn nur sie allein bzw. auf Basis ihrer Prämissen allein sei eine normative Wahrheit zu erreichen. In den undurchdringlichen dunklen Seiten der Geschichte der Erstakteure des Propheten, der Gefährten und teilweise auch der Rechtsschulen erscheint es aber so, dass gemäß dem Befund der Forschungen zur Spätantike im Allgemeinen und der Frühzeit der Muslime im Speziellen, dass das, was später als der Wille Gottes und seines Gesandten, geformt durch die göttlich geleiteten Gefährten und Gelehrten, ein Amalgam aus koranischer, altarabischer, sassanidischer, rabbinischer und bzyantinischer Rechts- , Kultur- und Theologiegeschichte ist. Weniges ist davon genuin auf den Propheten selbst rückführbar. Wenn wir zu diesem Befund auch noch die verschiedensten Gruppen der Frühzeit betrachten, die zu keiner einzigen Frage eine Einigkeit erkennen lassen, wird die Forderung nach „der einen“ Tradition hoch fraglich.

In Anbetracht dieser Tatsachen scheint der Ruf nach Vertrauen zu viel. Vertrauen kann nicht als Vorschuss geleistet werden, wenn wir uns bewusst sind, dass die Akteure der Tradition keine Geschichte nach heutigen Maßstäben schrieben. Denn bei einer genauen Betrachtung stellen wir fest, dass die verschiedenen muslimischen Fraktionen Narrative mit vermeintlich historischen Belegen zur Stärkung ihrer eigenen Positionen entwickelt haben. Auch heute fabrizieren Traditionalisten (im Sinne Arslans) ein solches Narrativ, von dem sie verlangen, dass Muslime davor in Ehrfurcht und Staunen niederknien sollen. Dabei wissen wir, dass keine Geschichtsschreibung völlig frei von Vorurteilen und Fehlern ist. Geschichte ist immer nur eine Erzählung, doch idealerweise eine, welche alle relevanten Daten, Funde und bisherigen Erkenntnisse berücksichtigt. Sie ist aber fast nie eine reine Wiedergabe dessen, was geschehen ist. Historiker sind sich aber idealerweise dieser Limitierung ihrer Wissenschaft bewusst und versuchen, ihre Erzählungen im Lichte besserer Beweise zu korrigieren und sie auch zu verwerfen. Wie in allen Wissenschaften, gilt auch in der Geschichtswissenschaft, dass es immer eine „Verzerrung“ (bias) gibt. Die Tradition weist aber ein solches Bewusstsein in ihren historischen Behauptungen und in ihrer „Geschichte“ nicht auf. Anders gesagt kann man eine Tradition basierend auf neuen Erkenntnissen nicht komplett revidieren, wie es in den Geschichtswissenschaften der Fall ist. Tut man das heutzutage, dann wird man der Häresie bezichtigt. Vorurteilsbehafteter Stolz auf die Vergangenheit ist keine bedauerliche Folge der Tradition. Sie ist der wesentliche Zweck der Tradition. Wir scheinen zu glauben, dass wir durch die Verherrlichung unserer alten Wissenstraditionen den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen von Theologen kulturelles Selbstvertrauen vermitteln. Was wir aber tun, ist, ihre Eigenständigkeit, die kritische Überprüfung und Analyse und den Versuch der Falsifizierung und neuer Theoriebildung im Keim zu ersticken.

Arslan erwähnt die Demut der Akteure in der Tradition, aber beim genauen Hinschauen fehlte diesen Akteuren diese Demut. Beispielsweise soll der Lehrer des Abu Hanifa, Hammad b. Abi Sulayman, die Kinder Iraks gelobt haben – sie besäßen nämlich mehr Verständnis (fiqh) als die Gelehrten Medinas. Aussagen, in denen Abu Hanifa von anderen zeitgenössischen, heute hoch anerkannten Gelehrten verachtet und zu einem Häretiker erklärt wird, haben fast den Status von mutawatir (mehrfach überliefert). Ähnliche Aussagen finden wir über Malik, al-Schafii und Ahmad. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Hanafiten und Schafiiten im Irak und Nischapur, zwischen Malikiten und Schafiiten in Ägypten, zwischen Hanbaliten und Aschariten in Bagdad, zwischen Malikiten und Zahiriten in Andalusien und Nordafrika sind historisch belegt. Die verschiedenen Zirkel lebten zeitweise nicht in gegenseitiger Achtung, sondern gegenseitiger Verachtung. Diese moderne Romantisierung einer kohärenten Tradition ist nichts anderes als gutgemeinte Fiktion, an die Traditionalisten aus den oben ausgeführten Gründen glauben und diese verwenden.

Desweiteren kann man Arslans Behauptung, erst in der Moderne würden die Bücher des Fiqh als direkte Handlungsanweisungen verstanden, die historische Erfahrung mit verschiedenen Missbräuchen entgegenhalten, in die Rechtsgelehrte verwickelt waren und, basierend auf Madhhab-Recht, Menschen hingerichtet oder verfolgt wurden. Als Beispiel hier kann man die Verfolgung von angeblichen Ketzern und Häretikern unter den Mameluken, Malikiten, unter den Almohaden, einigen Sufis im Osmanischen Reich, die Verfolgung der Ismailiten und Safawiden im Osmanischen Reich und so weiter erwähnen. Diese Liste findet kein Ende, um sie als Einzelfälle abzustempeln. Die Frage, die wir uns als Theologen zu stellen haben, ist folgende: Sollte Religion wirklich der Ort sein, an dem maximal-legalistische Auslegungen möglich sein können und der Nährboden für diese Art der Gewalt im Namen des Glaubens möglich wird?

Wir wissen aus den Erfahrungen mit Institutionen, in denen die klassischen Werke gelehrt werden (Madrasas und Hawzas), dass Arslans Bemühungen und Wunsch, die Texte der Tradition nicht als direkte Handlungsanweisungen zu verstehen, ins Leere laufen. So eine Denkweise, wie Arslan sie sich wünscht, wird von den moderatesten „Hütern der Tradition“, sei es in al-Azhar, Istanbul, Jakarta und Kuala Lumpur, belächelt. Von Saudi Arabien, Iran, Pakistan, Deoband oder den Taliban müssen wir gar nicht reden. In allen Institutionen der traditionellen Gelehrsamkeit dieser Welt werden diese Texte als Handlungsanweisungen gelehrt. Das Resultat wäre sowohl ein sunnitischer Iran als auch ein IS, wenn der Klerus mit bestimmten Interpretationen des Fiqh-korpus regieren würde. Personen, die gegen dieses Verstehen aufbegehren, werden von dieser Gelehrsamkeit verachtet und im allerschlimmsten Fall lebensbedrohlich verfolgt. Arslan zitiert Khaled Abou Fadel, über den nicht wenige den Takfir sprachen, weil er das Kopftuch für die muslimische Frau als Pflicht in Frage gestellt hat und den viele dieser traditionellen Akteure nicht ernst nehmen. Je schneller wir diese Probleme und die Sackgasse erkennen, in denen es nur darum geht, wer sich auf höhere Autoritäten beruft, desto schneller können wir uns von dieser Zwickmühle befreien. Denn auf Basis eines Vertrauensvorschusses gegenüber der Tradition können wir nicht weit kommen. Die Traditionalisten haben in diesem Diskurs die Oberhand. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, der kein Ende findet. Wir müssen zur Substanz gehen und die Tradition in dieser Substanz in Frage stellen und sie nicht als normative Autorität konstruieren. Damit wir spielen nämlich den erwähnten Akteuren nur in die Hand.

Arslan schreibt, für das Verstehen der Tradition sei Offenheit und Vertrauen notwendig. Sie hätten nach bestem Wissen und Gewissen versucht, die ursprüngliche Botschaft auszulegen und auf heute zu übertragen. Hierbei stimme ich Arslan zu. Die früheren Traditionsträger mögen mit großer Wahrscheinlichkeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben. Sie haben sehr fruchtreiche und ertragreiche Inhalte hervorgebracht. Ich bin mir auch relativ sicher, dass wahrscheinlich im Großen und Ganzen für die damaligen Maßstäbe Gerechtigkeit und Fairness bis zu einem gewissen Teil existierten. Aus der Tradition kann man reichlich schöpfen, insbesondere, wenn man sich nicht nur auf eine einzige Tradition beschränkt und alle Diskurse zusammen respektiert. Das kann auch für heute ertragreich genutzt werden. All das muss man nicht ablehnen. Die oben schon erwähnten Punkte müssen aber vor Augen gehalten werden. Die gesamte Tradition ist in all ihren Aspekten menschlich. Menschlich bedeutet, dass es kein einfaches unbeeinflusstes reines Lesen der Offenbarung gibt. Alle Menschen, auch wir, tragen in uns Erwartungen, Vorannahmen, Vorkenntnisse und vielleicht auch eine vorgefertigte Vorstellung davon, was „Wahrheit“ und somit wie „Theologie“ zu sein hat. Anthropologische, psychologische und kulturwissenschaftliche Forschungen der letzten Jahrzehnte haben den Einfluss unserer Sozialisation, Erziehung, tiefenpsychologischer Vorgänge und unseres kulturellen Kontextes auf das von uns produzierte Wissen und unsere Überzeugungen aufgezeigt. Eine Theologie, die die wissenschaftlichen Maßstäbe respektiert, darf nicht so tun, als ob diese Erkenntnisse sie nicht betreffen, oder so tun, als ob sie nicht existieren würden.

Diese Erkenntnisse und Ergebnisse müssen bei der Auseinandersetzung mit der Tradition beachtet werden. Die einzelnen Personen, egal wer sie sind, dürfen nicht außerhalb dieser festgestellten kognitiven Prozesse gedacht werden. Die Forschung hat beispielsweise in Bezug auf die Frühgeschichte der Muslime die kulturellen und theologischen Einflüsse des spätantiken Kontextes, sei es nun etwaige Gottesbilder, Kosmologien, juristische Normen oder Denkkategorien, gut dokumentiert. Wir wissen, dass insbesondere die Mawali, eine Art nicht-arabische Konvertiten zweiter Klasse, die im ersten Jahrhundert der Hijra lebten und sich gezwungenermaßen einem arabischen Stamm zuschreiben mussten, maßgeblich an der Formung der religiösen Disziplinen beteiligt waren. In Auseinandersetzung mit der archaischen und einfachen Lehre und Botschaft der neuen arabischen Herrscher flossen die Welt- und Gottesbilder, sowie ihre Kultur, Bräuche, ihre Traumata, ihre Vorstellungen von Recht und Unrecht, von Gut und Schlecht, vom Menschen, von Männern und von Frauen, in ihre Entwürfe ein. Diese bildeten in den späteren Jahrhunderten eine der Grundlagen der muslimischen Theologien, welche dann heute von Wissenschaftlern wie Arslan als die Tradition gedacht werden. Die Mawali taten dies, um überhaupt diskursfähig gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften zu werden. Sie selbst sahen sich ja auch schließlich als eine Fortsetzung dieser schon vorher existierenden Religionen. Daher war es nicht falsch, sich dieser Inhalte und Denkmuster zu bedienen. Der Prozess zur Erlangung von Diskursfähigkeit und Anerkennung ist heute nicht anders. Wenn ein neuer Bereich in der Wissenschaft ergründet/begründet wird, orientiert sich dieser an den Methoden und Ergebnissen bestehender Wissenschaften. Etwas vollständig neues begründen ist den wenigsten möglich.

Unter Anbetracht dieser Erkenntnisse müssen wir, bevor wir, wie Arslan es wünscht, über das Muster der Tradition reden, folgende Grundfrage stellen: Warum sollte diesem Muster überhaupt eine Relevanz zugesprochen werden? Wieso sollen wir die Muster der Tradition als Referenzpunkt für die Auslegung und das Verstehen und Anwenden der Religion insgesamt nehmen? Wieso sollen diese Texte überhaupt jenseits ihres Horizontes von Belang sein? Wieso sollen Auslegungs- und Bedeutungsmöglichkeit von vormodernen Menschen, deren Wissensstand über die Welt, über die Menschen und sogar über die religiösen Quellen weit unter unserem liegt, für Gläubige heute relevant sein? In der von Arslan geführten Argumentation befinden sich unbegründete Prämissen. Wer hat beispielsweise zu bestimmen, dass irgendein Text normativen Wert habe? Wenn Arslan sagt, die Tradition selbst, gelangen wir in einen Zirkelschluss.

Die Antworten auf diese Fragen müssen wohl bedacht formuliert werden. Eine dieser Fragen ist auch die Eingangsfrage: was ist überhaupt „Islam“ und muss Islam überhaupt legalistisch gedacht werden? Um diese Frage überhaupt zu verstehen, muss ein Theologe vorher erkennen, dass alle Diskurse, Philosophien, Ontologien und ethischen Modelle, die gebunden an einen Ort und eine Zeit errichtet wurden, einen Prozess der grundlegenden erkenntnistheoretischen Krise durchlaufen und durchlaufen mussten. Grund für diese Krise ist nicht allein, dass diese erwähnten Disziplinen für bestimmte zeitliche und räumliche Koordinaten definiert wurden. Vielmehr entsteht sie aus der Tatsache, dass sie für die damaligen Orte und Zeiten maßgeschneidert und in voller Abhängigkeit auf ihnen begründet sind. Theologische Diskurse, die in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext bedeutungsstiftend festgesetzt wurden, stehen aber heute im kulturell luftleeren Raum, wenn die sie stützenden und wahrenden traditionellen Organisationen, Mächte und Beziehungen zerbrechen und sich auflösen. Dies ist ein Grund, warum Individuen, Gruppen und Gemeinden, welche diese Modelle ideologisch und praktisch als Lebensart übernommen haben, von Zeit zu Zeit im Namen der Fundierung ihrer Identität mit neuen Begriffen in Anachronismen verfallen, wie es die Traditionalisten tun.

Die Tradition bietet, wie der Glaube und/oder die philosophischen Grundlagen auch, den Individuen und Gruppen eine augenscheinliche Sicherheit. Sie verschließt sie auf der Ebene der Erkenntnis und lässt nur eine bestimmte Form der Erkenntnis und des Denkens zu. Traditionen definieren die Wirklichkeit. Sie sperren sie in bestimmte Formeln ein. Sie dienen aus historischer, praktischer und pragmatischer Sicht dazu, das Bedürfnis der Individuen nach Sicherheit zu befriedigen. Deswegen verspüren heute alle Strukturen, die nicht die Schale und den Rückzugsort der Tradition ausbilden konnten und somit in ihren eigenen Paradigmen Schwächen aufweisen, die Wellen der gegenwärtigen epistemologischen Krise in ihrer Lebensweise viel stärker und umfassender. Aber es gibt keinen Kontext und keinen Ort mehr, an dem die Erkenntnisse und die Herausforderung der Gegenwart nicht angelangt sind oder nicht noch gelangen werden. Das Internet hat alle Barrieren überwunden. Daher ist zweifellos kein Theologe vor diesen Entwicklungen geschützt. Alle Theologen werden sich früher oder später diesen unbarmherzigen und brutalen Tatsachen gegenüber ausgesetzt finden. Es ist daher nicht eine Frage der Strategie, sondern nur eine Frage der Zeit. Unter Berücksichtigung all dessen wird jemand verstehen, wie sich diese Frage speist.

Es ist falsch anzunehmen, dass diese Themen im traditionellen System der Theologie ausreichend durchdacht und gelöst wurden. Der Kontext nämlich, in dem diese Fragen erneut aufgeworfen werden, unterscheidet sich gravierend vom historischen Kontext. Daher muss derjenige, der hierfür Lösungen anbietet oder aus dem Reichtum der Lösungen der Früheren schöpfen und sie für heute fruchtbar machen will, die Sprache von Grund auf neu errichten, um auf den globalen Diskurs entsprechend zu reagieren und von diesem ernst genommen zu werden. Die Welt hat sich in jedem Punkt vollständig verändert. Der gegenwärtige Mensch denkt und funktioniert in fast keiner Weise mehr wie der Mensch der Vormoderne. In diesem Kontext sind zeitgenössische muslimische Theologen dazu angehalten, das Sein Gottes, die Gott-Mensch Beziehung, das Schicksal des Menschen, das Problem des Bösen, die Prophetie, die Beziehung zwischen Religion und Politik, die Funktion von Religion insgesamt, die Frage nach dem, was Religion dem Menschen bietet, sowie ähnliche Fragen der Theologie, erneut zur Hand zu nehmen und zu durchdenken.

Einst bezogen sich die Diskussionen in der Welt der Theologie auf einzelne Fragen der Normenlehre [fiqh], insbesondere in der muslimischen Welt, doch der Diskurs entwickelte sich weiter und der Untergrund verschob sich vollständig. Heute muss die diskutierte Frage sein, was eigentlich „Islam“ ist und was der Kern von „Islam“ ist. Die Forschung der universitären Theologie müsste sich darauf konzentrieren, den Unterschied zwischen Religion und Kultur, Glaube und Geschichte auszumachen. Bestehende Forschungen stärken die These, dass die Religion das Ergebnis einer historischen Erfahrung ist. Die Resultate dieser Forschungen, ihre theologische und philosophische Korrektheit und Angemessenheit in ihrem eigenen Rahmen können und müssen diskutiert werden. Doch keine einzige wissenschaftliche oder theologische These darf allein aus strategischen Gründen und aus „Sorge“ für die Allgemeinheit und die Entwicklung der Theologie abgelehnt werden. Der wissenschaftliche Wert der Thesen und Behauptungen muss auf Basis ihrer wissenschaftlichen Grundlagen überprüft werden. Die Suche nach neuen Methodologien im Bereich der Theologie ist eine Bemühung, an deren Aufrichtigkeit und intellektueller Ernsthaftigkeit nicht gezweifelt werden sollte.

Eine weitere Tatsache, die es bei der Antwortfindung zu bedenken gibt ist, dass es in der muslimischen Tradition unterschiedliche Gottesbilder gibt. Auf welchem Gottesbild begründend sollten Theologen antworten, agieren und welches sollte den Gläubigen vermittelt werden? Der Gott des Kalām, der im Großen das Resultat logischer Sätze und der Ratio ist, verweist gewiss auf eine andere Ontologie als der erhabene Gott der Sufis, der die Quelle der Liebe und das Sein selbst ist. Der Gott des Fiqh ist die Quelle der Normen und der notwendige metaphysische Anker zur Begründung des Rechts und ist auf diese Normen maßgeschneidert, so dass am Ende nur ein göttlicher Faqih als Gott gedacht wird. Doch es bleibt bei diesen nicht nur bei unterschiedlichen Ontologien, sondern diese Gottesbilder ebnen den Weg für unterschiedliche Formen der Religiosität. Diese Bilder stellen alle eine Reflektion einer Wirklichkeit dar, auch wenn diese Reflektion verzerrt ist. Die Beziehung des Menschen mit Gott geschieht immer über ein Gottesbild, welches der Mensch in sich trägt. Als Mensch ist kein einziger von uns in der Lage, die Sprache unserer eigenen Zeit, die Strukturen, die Traditionen und Theologien unserer Gegenwart zu überwinden und abseits davon eine Möglichkeit zu finden, uns Gott zuzuwenden. „Im Gesicht Gottes spiegelt sich immer der Zeitgeist“, denn Zeit und Ort haben Teil an der Wirklichkeit und je nachdem, welches Gottesbild die Theologie pflegt, ist Gott nicht statisch, sondern kann variabel sein, da sich zu jedem Moment und zu jeder Zeit Gott neu offenbaren und zeigen kann. In dieser Art können auch die Antworten auf die Frage nach dem, was „Islam“ ist, variieren.

Hierbei dürfen Theologie und Glaube nicht verwechselt werden. Die Theologie ist eine Wissenschaft über den Glauben. Sie selbst produziert in niemandem Wahrheit. Göttliche Wahrheit und Glaube sind ein Erleben und ein Erfahren, sie sind kein Auswendiglernen und kein Studium. Der Prophet war kein Theologe, hat keine Theologie gebracht und keine Theologie gesetzt. Er brachte einen einfachen Glauben, wenige Rituale und in erster Linie lebte er sein andächtiges Leben. Daraus schufen Menschen Theologie. Diese Imagination einer Religion, welche die Imagination von Menschen in einem bestimmten zeitlichen Kontext ist und welche vermeintlich normstiftende Inhalte betonten, müssen spätere Gläubige nicht zwingend übernehmen. Eben dieser Befund durch die Hinterfragung ist mitunter Teil dieser Herausforderung. Das menschliche Heil muss und kann nicht in Abhängigkeit von Taten gedacht werden. Es gibt muslimische Strömungen in der Tradition, welche Regeln relativieren und Regelbrüche als Teil ihrer Theologie lobten.

Ein weiteres Beispiel für einen Diskussionspunkt ist, was es überhaupt bedeutet, ein „Muslim“ zu sein. Das Wort „Muslim“ in seiner wortwörtlichen Bedeutung anzunehmen und gleichzeitig die gelebten historischen und theologischen Erfahrungen der muslimischen Gemeinde bis jetzt zu relativieren, ist eine mögliche korrekte philosophische Haltung. Die Forschung zeigt uns, dass das Wort „Muslim“, wie es im Koran verwendet wird, selbst nicht identisch ist zu der später im Laufe der Zeit begründeten Identität und Religionszugehörigkeit „Muslim“. Letzteres ist das Produkt historischer Erfahrung, welches kulturell und politisch konstruiert wurde. Von dieser Tatsache ausgehend ist es für heutige Gläubige möglich, in dieser Welt in einer vollkommen anderen Form als Muslim zu leben und ihren „Islam“ in einer Form darzulegen, als es bisher je getan wurde. Diese These wird auch ausreichend untermauert von verschiedenen traditionellen und modernen religiösen Erfahrungen und Lebensarten in der gegenwärtigen muslimischen Welt, in der die unterschiedlichsten Menschen sich mit unterschiedlichen Positionen, Ideen und Praktiken als Muslime verstehen.

Wenn das Muslim-sein in dieser Art von seinen bestehenden, nach-prophetischen, historisch gewachsenen Konstrukten geleert wird, ist es dann kein realistisches Unterfangen von Seiten der Theologen mehr, das Muslim-sein in einer institutionalisierten Form zu denken oder zu fordern. In dieser gegenwärtigen Welt kann sowieso keine Form der Religiosität mehr erzwungen werden. Dies gilt nicht nur für die traditionelle muslimische Religiosität.

So sind die Veränderung der Theologie, das Ablegen des Vertrauens und eine kritische Reflektion der Tradition eine Notwendigkeit. Es ist das Recht der Gläubigen und der Theologen heute, ihren eigenen Weg im Dickicht zu finden – und sie können natürlich aus der Tradition schöpfen, aber sie darf niemals maßgebend sein für das, was Richtig oder Falsch ist. Es ist zu erwarten, dass die Intellektuellen die ersten sind, die dies erkennen. Diese Veränderung ist keine Heldentat. Sie ist das Resultat des informierten und reflektierten Verstandes. Wer sich aber als Mahdī, Muǧaddid, Erretter, Warner, Reformer, Wiederbeleber etc. darstellt, verhindert bewusst oder unbewusst den Prozess dieser Veränderung. Diese Aufgabe ist vielschichtig und mehrdimensional und kann nicht nur von einer Person getragen werden.

Im Licht all dessen also muss die grundlegende Frage ernsthaft bedacht werden: Was ist Islam und gibt es historische Indikatoren, dass Islam legalistisch sein muss? Sind die minituiöse, fiqh-artige Erforschung von Halal und Haram grundlegende Elemente dessen, was „Islam“ zu sein hat? Intendierte der Stifter ein Denken, welches auf die Schrift und seine Bräuche fokussiert war und sein sollte? Ist der Text denn überhaupt legalistisch intendiert, oder ist das ein Konstrukt der Theologie? Ist die Behauptung der Universalität der partikularen Normen ein fixer Bestandteil oder ist es ein späteres Konstrukt? Fazlur Rahman sagte einmal: „Der erste essenzielle Schritt für den Muslim ist, dass er zwischen normativem Islam und historischem Islam unterscheidet.“ Heute aber sollten wir wissen, dass Fazlur Rahman falsch lag. Der erste essenzielle Schritt ist nämlich die kritische Betrachtung des Begriffs „Islam“ an sich und der Schritt danach ist die Erkenntnis, dass es vielleicht keinen einzigen „normativen Islam“ gibt und jede Form des Islams und Muslim-seins legitim ist.

In meiner Replik habe ich einige Stellen von Meera Nandas „Science in Saffron“ und Mehmet Evkurans „Güncel Kelamın Sorunları“ paraphrasiert.

Categories: Resonanzraum, Aktuelles

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