Begriffe wie Vertrauen und Verdacht werden der Erschließung der vielfältigen islamrechtlichen Tradition nicht gerecht

Von Prof. Dr. Serdar Kurnaz

Am 18. März 2022 reagierte Hakkı Arslan in seinem Beitrag „Warum Halal und Haram doch nicht so schlimm sind – Die Rehabilitierung der ‚Tradition‘ jenseits von Idealisierung und Verachtung“ auf meine Ausführungen zu „Warum wir die Welt in Halal und Haram sehen“ vom 07. Januar 2021. Er hat zwei Punkte aufgegriffen und als Anlass für seine Überlegungen genommen: 1) Er kritisiert zum einen, dass ich einer Niedergangsthese folgen würde, wonach sich die islamische Rechtstradition nach einem Zeitpunkt X kaum weiterentwickelt habe. Diese Auffassung folge einer „Verdachtshermeneutik“. 2) Arslan schließt sich meiner Kritik an, dass eine Haltung unter Muslim:innen zu finden ist, die die islamrechtliche Tradition unkritisch rezipiert. Mit seinen Worten: „Problematisch ist – und hierin übt der Autor berechtigte Kritik aus – ein reduktionistisches und formalistisches Verständnis juristischer Normen.“ Natürlich ist der Beitrag von Arslan nicht auf diese beiden Punkte zu reduzieren. Sein Grundanliegen ist es, über die Frage nachzudenken, wie die Tradition fernab der zwei möglichen Extreme ihrer Idealisierung und Verachtung rezipiert werden kann. Dabei entwickelt Arslan Gedanken, zu denen ich mich im zweiten Teil meiner Replik äußern möchte. Zuvor möchte ich aber auf die oben genannte Kritik der Niedergangsthese kurz eingehen.

Um einordnen zu können, wieso Arslan meinen Ausführungen entnehmen konnte, dass ich einer Niedergangsthese folge, habe ich meinen Beitrag noch einmal kritisch durchgelesen. Meine Verwunderung über die Kritik von Arslan, dass ich einer Niedergangsthese folgen würde, hat sich bestätigt. Denn mein Beitrag gibt keinen Anlass dafür, anzunehmen, dass ich von einer Niedergansthese ausgehe. Die Niedergangsthese ist überholt, auch ich folge ihr nicht. Dieser Gedanke schwingt daher in meinem Beitrag nicht implizit mit, geschweige denn davon, dass ich ihn explizit formuliert hätte. Unklar ist mir daher auch die Einordnung von Arslan, dass ich es per se für problematisch hielte, die Handlungen „mit religiösen Begriffen halal und haram“ zu definieren, was „auf einige (Fehl-)Entwicklungen des islamischen Rechts ab dem 9. Jahrhundert“ zurückginge. Es wird in meinem Beitrag deutlich, dass ich dieser reduktionistischen Denkweise nicht folge, wie ich es zum Beispiel im folgenden Satz formuliert habe: „Tiefgreifende Entwicklungen sind für gewöhnlich multikausal, haben mehrere Gründe und Faktoren.“ Meine Kritik ist gegen die heute verbreitete Wahrnehmung gerichtet, historische Entwicklungen innerhalb der Tradition absolut zu setzen – wobei ich mich nicht scheue, auch die Tradition zu kritisieren. Die Hauptaussage meines Beitrages ist also: Wenn wir historisch bedingte Entwicklungen, seien es konkrete Handlungsanweisungen in rechtspraktischen oder hermeneutische Ansätze in rechtstheoretischen und –methodischen Werken, die für Rechtsexpert:innen geschrieben worden sind, absolut setzen, also als unumstößliche Wahrheit annehmen, dann führt dies zu einer reduktionistischen Wahrnehmung der religiös begründeten Praxis und ihrer theoretischen Grundlagen! Also ist eine Reduktion des richtigen Handelns auf Halal und Haram meines Erachtens problematisch. Ein Beispiel: Muftis ordnen das Autofahren als zulässig ein; es ist ǧāʾiz. Fährt man Auto, sündigt man nicht bzw. man handelt richtig. Ist es aber tatsächlich richtig, immer wieder auf das Auto zurückzugreifen? Es gibt heute aus unterschiedlichen Gründen Bedenken gegen das Autofahren, von der Umweltverschmutzung, Ausbeutung der Natur hin zum Beitrag an der Bereicherung von autokratischen Staaten (siehe Russland-Ukraine-Krieg; wir meckern ja noch über zu hohe Benzinpreise anstatt gegen die Deutsche Bahn zu protestieren, dass sie das Schienennetz und das Angebot nicht behindertengerecht (!) ausbaut und erweitert – den öffentlichen Nahverkehr spreche ich erst gar nicht an). Die Kategorien Halal und Haram kann und soll man nicht ignorieren; das hat gute Gründe. Dass der Verzehr von Schweinefleisch verboten ist, kann man zum Beispiel gar nicht anders begründen als in der Halal-Haram-Kategorie. Ihre vollständige Gleichsetzung mit richtig und falsch ist das Problem. Es gibt also mehr als nur ein formalistisches Verständnis von Halal und Haram; und normierende Diskurse und Praktiken gehen weit über das islamische Recht hinaus.

Meines Erachtens müssen wir uns eingestehen, dass die Herangehensweise der Rechtsgelehrten (gleichgültig in welchem Jahrhundert) den Weg für ein formalistisches bzw. das islamische Recht verabsolutierendes Verständnis öffnete. Denn sie vermitteln im Allgemeinen den Eindruck, dass die Normen, die sie herleiteten, eine (direkte) Verbindung zum Koran hätten und göttlich seien. Mehr noch: Auch die Methoden werden mithilfe von Koranpassagen und prophetischer Praxis legitimiert. Damit deuten die Gelehrten an, dass auch die Methoden eine göttliche Legitimation etwa durch Koran erhalten. Schon in der Geschichte hat das eher formalistische Verständnis viele Kreise gestört. Es gibt jede Menge Rechtsgelehrte, die es beanstanden. Alternative Ansätze innerhalb des islamischen Rechts, die hier nicht aufgezählt werden können, haben auch nur in diesem textzentrieten Rahmen funktioniert. Wollte man im Spiel des islamischen Rechts mitspielen, galten bestimmte Regeln. Mein Aufruf im letzten Beitrag war es, diese Spielregeln als Regeln in ihren eigenen Kontexten und nicht als unumstößliche universale Prinzipien und Gesetze zu verstehen. Das gilt sowohl für Konzepte aus der Geschichte wie auch der Gegenwart, unabhängig davon, wie wir sie bezeichnen: liberal, konservativ, modern, modernistisch, traditionell, traditional, traditionalistisch oder progressiv.

Der Schwerpunkt des Beitrags von Arslan ist die Traditionsrezeption, worauf ich hier im zweiten Teil meiner Replik eingehen möchte. Hakkı Arslan macht in seinem Beitrag zu Recht darauf aufmerksam, dass sowohl eine Idealisierung der Rechtsgelehrsamkeit im Sinne einer vorbehaltlos anzunehmenden Herangehensweise als auch ihre Verdächtigung, dass sie alles falsch gemacht hätte, fehl am Platz ist. Dem schließe ich mich an. Arslan betont darüber hinaus, dass man seinen Beitrag als einen Versuch für eine „kritische Vertrauenshermeneutik“ verstehen könne: „Es ist eine Hermeneutik, welche grundsätzlich auf die Tradition vertraut, aber dennoch das menschliche Fehlerpotenzial berücksichtigt und dementsprechend die Vertrauenshermeneutik mit einer Traditionskritik im Sinne der Wahrheitsfindung verbindet.“ Ich möchte dieses zwar kritische, aber grundsätzliche Vertrauen zur Diskussion stellen und meine Sicht darauf zur Sprache bringen.

Meines Erachtens werden beide Begriffe, Vertrauen und Verdacht, der Erschließung der vielfältigen islamrechtlichen Tradition nicht gerecht. Vertrauen setzt eine feste Überzeugung voraus, dass etwas oder jemand verlässlich sei. Ähnlich gilt für Verdacht, dass sie eine argwöhnische Vermutung und Schuld voraussetzt. Beides widerspricht meinem Verständnis von wissenschaftlicher Theologie – ich verstehe Arslans und meinen Beitrag in diesem Kontext. Beide Perspektiven, also Vertrauen und Verdacht, sind mit starken positiven sowie negativen Vorurteilen (feste Überzeugung vs. argwöhnisches Misstrauen) behaftet. Eine „Verdachtshermeneutik“ läuft Gefahr, jede Entwicklung als Fehlentwicklung zu deuten; eine Vertrauenshermeneutik, auch wenn sie kritisch ist, läuft dagegen Gefahr, dem Motto zu folgen, dass die Gelehrten sich wohl etwas bei dem, was sie getan haben, gedacht haben müssten. Ich sehe in beiden Ansätzen einen versteckten Essentialismus: Die eine Herangehensweise sucht nach dem Fehlverständnis, das sich durch die Tradition hindurchzieht; die andere nach dem Erstrebenswerten, das es in irgendeiner Form zu schützen gilt. Ich denke, Letzteres aus dem Beitrag von Arslan herauslesen zu können: Arslan favorisiert eine Lesart, die er als „traditional“ bezeichnet, gegenüber einer etwa traditionalistischen. Erstere ermögliche im Rahmen der Tradition einen Gegenwartsbezug herzustellen, letztere verstelle die Tradition. Dass die Tradition einen Gegenwartsbezug herstellen muss, dass der Traditionalismus die Tradition entstelle, folgt ebenfalls bestimmten Annahmen, die es erlauben, sie als Grundbestandteile der Tradition bzw. als Essenz zu bestimmen. Was dem nicht gerecht wird, gehört nicht zur Tradition und, wie aus dem Beitrag von Arslan deutlich wird, entstellt sie. Damit aber hätten traditionalistische Ansätze, die auch einen Bezug zur Tradition herstellen, keinen Platz darin. Wir können sie aber sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart wiederfinden. Ob man ihr folgt oder sie für nicht überzeugend hält, ist wiederum eine andere Frage.

Einen Hinweis darauf, dass nach Arslan in der Tradition etwas Erstrebenswertes, eine erkennbare Struktur vorliegt, innerhalb dessen unterschiedliche Ansätze ausgehandelt wurden, sehen wir in seinen Ausführungen zum Begriff „Muster“. Unabhängig von den drei Ebenen des Musters (siehe „Textmuster“, „hermeneutisches Bezugsmuster“, „Anwendungsmuster“) setzt Arslan voraus, dass die Tradition eine innere Logik habe, „die nicht an eine spezifische historische Situation gebunden“ sei, „die dann in einer konkreten Situation dynamisch wiederholt werden“ könne. Zurecht betont Arslan, dass islamrechtliche Lösungen und Konzepte innerhalb eines bestimmten „Korrelationsgefüges“ „Textmuster-hermeneutisches Bezugsmuster-Anwendungsmuster“ verstanden werden müssten und eine Verabsolutierung von Lösungen falsch sei. Ich bestreite aber die Grundannahme, dass eine zeitunabhängige innere Logik der Tradition vorliegt. Ich nehme an, dass Arslan mit der Vertrauenshermeneutik das Vertrauen, neben der aufrichtigen Wahrheitssuche der Gelehrten, in diese innere Logik meint. Unter Vertrauen ist wohl das Vertrauen auf die Korrektheit dieser inneren Logik und ihre fortwährende Gültigkeit gemeint. Dieses Vertrauen teile ich ebenso wenig; wo es keine überzeitliche innere Logik gibt, kann es auch kein Vertrauen darauf geben. Ich nehme fern von bewertenden Kategorien wie „falsch“ und „richtig“ an, dass jede innere Logik eines Konzepts, Entwurfs und Ansatzes auf spezifische historische, theologische, hermeneutische und/oder philosophische Annahmen zurückgeht. Mit welchen Mitteln diese innere Logik erkannt werden kann, wird aus dem Beitrag Arslans nicht ersichtlich. Ein Faktor könnte zum Beispiel die weitverbreitete Rezeption sein. Dass sich eine bestimmte Rechtssystematik und –logik über Jahrhunderte hinweg etabliert hat, ist aber weder ein Merkmal für eine Überzeitlichkeit noch etwas, worauf man vertrauen kann. Auch die Art und Weise, wie über Jahrhunderte hinweg das islamische Recht konzipiert wurde, geht auf Annahmen zurück, die sich datieren und aus unterschiedlichen Gesichtspunkten heraus erklären lassen.

Über den Beitrag von Arslan hinaus als allgemeines Problem angesprochen, ist meines Erachtens eine Absolutsetzung des Traditionsbegriffes oder die Gleichsetzung der „Tradition“ mit einer inneren Logik, die gegenüber anderen Entwürfen als überzeitlich präferiert wird, problematisch. Man kann natürlich etwas, das man als innere Logik eines Systems erkennt, gegenüber anderen Aspekten befürworten. Der überzeitliche Geltungsanspruch ist meines Erachtens hier das Problem. Die Tradition ist plural, vielfältig und ihre Fortschreibung kann stets unterschiedlich aussehen. Unterschiedliche historische Gegebenheiten und Bezugsfelder, wie etwa die Begriffssystematik, die Erkenntnislehre und die Befolgung von bestimmten Konzepten bzw. ihre Kritiken sind alle eine Art Fortschreibung von Überlegungen und Ansätzen in der islamrechtlichen Tradition. Den Gesamtrahmen aller Konzepte umrahme ich, und das ist mein Vorschlag, damit, dass die islamrechtliche Tradition den Koran und die Sunna zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen macht. Mir ist es dabei wichtig, Koran und Sunna als eine gemeinsame Größe zu verstehen, und sie nicht in ein hierarchisches Verhältnis zu setzen. Der Zugang zum Koran und zur Sunna (von „literalistisch“ bis historisch-kritisch), die Rechtskonzeption, der hermeneutische Ansatz, theologische Grundannahmen etc. können variieren und brauchen keiner gemeinsamen inneren Logik folgen. Jede Konzeption muss sich somit selbst gegen Gegenargumente verteidigen und darf nicht auf eine innere Logik vertrauen. Man denke an das Beispiel aus dem 9. Jahrhundert, das ich im letzten Beitrag genannt habe. Tut man dies nicht, entsteht zum Beispiel die Gefahr, Abū Ḥanīfas (gest. 767) Ansatz mit dem von Abū Zayd ad-Dabūsī (gest. 1039) und diesen mit späteren Hanafiten wie ʿAlāʾ ad-Dīn as-Samarqandī (gest. 1144) gleich zu bewerten. Sie spielen zwar alle nach den Regeln der Hanafiten, die auch unter spezifischen Bedingungen entstanden und modifiziert worden sind, folgen aber unterschiedlichen theologischen und hermeneutischen Annahmen, sofern sie rekonstruierbar sind. Das gilt gleichermaßen für die anderen Rechtsschulen sowie die theologischen Denkschulen. Um meine Ausführungen mit einem Beispiel aus dem Fußball zu veranschaulichen:

Johann Cruyff, Zinédine Zidane und Christiano Ronaldo sind hervorragende Fußballer; sie alle haben diese Sportart geprägt und weiterentwickelt. Die Regeln des Fußballs, die Intensität und Logik des Spiels sowie die medizinischen und technischen Möglichkeiten waren bei allen anders. Sie haben ja auch auf unterschiedlichen Positionen auf dem Spielfeld gespielt. Man kann also das Spiel von Cruyff, Zidane und Ronaldo nicht nach der inneren Logik, die wir im heutigen Fußball sehen, bewerten. Dies wäre nur korrekt, wenn wir die Spielart von Ronaldo und seines Kontrahenten Lionel Messi betrachten – um die Messi-Fans nicht zu verärgern, sei er auch erwähnt. Es gibt aber einen Rahmen: Den Fußball nach den variierenden Möglichkeiten und den stets neu ausgehandelten Spielregeln (denken Sie an die Anpassungen der Abseits- und Handspielregeln) in das Tor des Gegners zu schießen; dies käme dem gleich, was ich oben mit Koran und Sunna als Rahmung meinte.

Mein Vorschlag ist es daher, von wertenden Begriffen wie Vertrauen oder Verdacht Abstand zu nehmen. Die Erschließung und Fortschreibung der Tradition in ihrer gesamten Breite sollte meines Erachtens in drei Schritten erfolgen: 1) Historisierung im doppelten Sinn, 2) Dekonstruktion und 3) (Re-)Konstruktion.

1) Historisierung im doppelten Sinn bedeutet, dass man a) den Forschungsgegenstand bzw. die Fragestellung im eigenen Entstehungskontext verortet und b) sich selbst über den eigenen Kontext bewusst wird. Denn wir stellen Fragen an die Tradition, die uns heute beschäftigen, die sich aus unserer Lebensrealität ergeben. Wir wählen bewusst aus, uns mit bestimmten Gelehrten, Konzepten und Themen zu befassen. Somit sind weder „die Tradition“ noch unsere Lösungen, Kritiken und Feststellungen überzeitlich gültig.

2) Dekonstruktion – und der Begriff ist nicht negativ im Sinne von Entlarven gemeint – schließt sich diesem Prozess der Historisierung an, um zu verstehen, und nicht unbedingt zu bewerten, wie Konzepte und Lösungen entstanden sind, wie sie rezipiert wurden, welche Grundannahmen sie voraussetzen und welche Konsequenzen sie haben.

3) Die (Re-)Konstruktion dagegen schafft den Gegenwartsbezug, den ich für die theologische Arbeit als unabdingbar erachte, da Theologien den Anspruch erheben, die Welt aus ihrer Perspektive auf Neue zu deuten: Brauchen wir eine Neuorientierung und wie kann man neue Konzepte, Ansätze und Lösungen formulieren? Können bestehende Ansätze und Konzepte auch heute gelten? Mir ist in allen Schritten das Wort „Konstruktion“ wichtig. Ungeachtet dessen, welchen Anspruch wir haben, sind alle Konzepte, Ansätze und Lösungsvorschläge menschliche Konstruktionen; nur die göttliche Offenbarung ist davon befreit, die sich aber auch u.a. auf menschliche Konstrukte bezieht (!). Auch das, was ich denke, vorschlage und für richtig halte, konstruiere ich mit einem bestimmten Blick auf Geschichte und Gegenwart und mit Rücksicht auf Überzeugungen, seien es theologischer, philosophischer, hermeneutischer usw. Natur. In jedem Schritt sollte man sich daher der eigenen Fehlbarkeit – wie es die Gelehrten ähnlich formulierten – bewusst sein; unsere Lösungen sind genauso zeitlich bedingt, fehlerhaft bzw. vorteilhaft unter bestimmten Umständen und keine zeitlosen großen Entwürfe.

Man könnte die oben beschriebene Tätigkeit mit Lego-Bausteinen vergleichen: 1) Ich sehe viele Legobauten, entscheide mich zum Beispiel dafür, ein Lego-Haus näher zu betrachten. Ich muss mir also die Frage stellen, wieso ich mich genau für dieses eine Beispiel entschieden habe, wer es unter welchen Umständen entworfen und zusammengesetzt hat, ob es mit anderen Lego-Entwürfen oder Bauten in Verbindung steht, sich hat inspirieren lassen. Darauf folgt die nähere Betrachtung dieser „Konstruktion“: Woraus besteht sie, welche Farbe hat sie, wie sind die Teile zusammengesetzt, was passiert, wenn ich bestimmte Teile entferne oder weitere hinzufüge? Also dekonstruiert man das Haus und zerlegt es in Einzelstücke. Mit Blick auf die ursprüngliche Zusammensetzung, die einzelnen Bestandteile, kann ich mir nun die Frage stellen, ob ich es genauso bauen würde (Rekonstruktion) oder ob ich etwas anderes mit denselben Teilen oder etwas komplett Neues bauen möchte (Konstruktion). Wenn ich an die Erschließung und die Fortschreibung der Tradition in ihrer Breite denke, sind diese beschriebenen Schritte unabdingbar, um sie, fernab bewertender Kategorien, wissenschaftlich theologisch zu erschließen und für Gegenwartsfragen Antworten vorzuschlagen.

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1 thoughts on “Begriffe wie Vertrauen und Verdacht werden der Erschließung der vielfältigen islamrechtlichen Tradition nicht gerecht

  1. Vielen Dank für die Ausführungen, wovon ich sehr profitiert habe!

    Hier einige Gedanken zur These „Vertrauen und Verdacht werden der Erschließung der komplexen Tradition nicht gerecht“!

    Verdachtshermeneutik und Vertrauenshermeneutik sind zwei etablierte Begriffe im traditionstheoretischen und hermeneutischen Diskurs, die zwei unterschiedliche vielleicht paradigmatische Herangehensweisen beschreiben und deshalb sehr wohl im wissenschaftlichen Diskurs verwendet werden können. Während in Anlehnung an Paul Ricoeur die Verdachtshermeneutik eher für eine traditionskritische Ausrichtung steht, wird die Vertrauenshermeneutik meist als eine traditionsbewahrende Ausrichtung verstanden, wie sie paradigmatisch von Hans Georg Gadamer vertreten wurde. Mein Ansatz war es zwischen diesen beiden zu vermitteln und einen bewahrenden Umgang mit einem kritischen zu kombinieren, deshalb „kritische Vertrauenshermeneutik“. Serdar Kurnaz These, dass die beiden Begriffe Vertrauen und Verdacht der komplexen Tradition nicht gerecht werden, stimme ich insofern zu, als dass eine „reine“ Verdachts- und „reine“ Vertrauenshermeneutik nicht ausreichen. Gerade deshalb habe ich ja eine vermittelnde Position vorgeschlagen. Also eine Vertrauenshermeneutik flankiert mit einer Traditionskritik im Sinne der Wahrheitsfindung. Dass er auf diese Begriffe verzichten möchte, verstehe ich natürlich, aber dennoch lässt sich der Begriff der Vertrauenshermeneutik im wissenschaftlichen Diskurs fruchtbar machen.

    Zum Thema „innere Logik“ einer Tradition:

    Jede Tradition hat eine innere Logik auch wenn sie historisch entstanden ist. Ob man es toll findet oder nicht, ist eine andere Frage, aber wie soll eine Tradition sonst über die Jahrhunderte hinweg systematisch fortgeschrieben werden, wenn es keine innere Logik, eine Systematik gäbe. Ich sprach an keiner Stelle meines Beitrags von einer überzeitlichen Gültigkeit der Tradition oder der inneren Logik, noch von einem absoluten Wahrheitsanspruch dieser Tradition. Es ging mir primär darum zu zeigen, wie „traditionales Denken“ überhaupt funktioniert und wie man „Tradition“ überhaupt fassen kann, bevor man anfängt sie traditionskritisch zu durchleuchten. Statt sich traditionstheoretisch darauf einzulassen, dachte Kurnaz, dass ich die traditionale Methode als die einzig wahre überzeitliche Methode proklamiere. Das war nicht Ziel des Beitrags. Wenn es so wäre, hätte er mit seiner Kritik völlig recht gehabt.

    Zu seinem Ansatz „Historisierung, Dekonstruktion und Konstruktion, sowie die Rahmung durch Koran und Sunna“. Insgesamt finde ich diese Rahmung einfach zu vage ohne eine Konzeptualisierung des Traditionsgutes vorgenommen zu haben.

    Hier meine Gedanken dazu:
    https://hakkiarslan.blog/2022/04/20/warum-eine-vertrauenshermeneutik-legitim-ist/

    Vielen Dank nochmal für den exzellenten Beitrag!

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