Das Deutschland meiner Tage | von Feridun Zaimoglu

Foto: Arne List

Dieser Text wurde verfasst für die Auftaktveranstaltung der Veranstaltungsreihe „Meine Geschichte – Deine Geschichte: Unsere Geschichten? Das Osmanische Reich und Berlin“ im Rahmen des Projekts „Guten Morgen, Abendland! Europa ist mehr“ von LIFE Bildung Umwelt Chancengleichheit e.V., der Alhambra Gesellschaft e.V. und der Landeszentrale für politische Bildung Berlin.

Im Deutschland meiner Tage herrscht keine Festtagsstimmung. Ich gehe zu den Männern, ich gehe zu den Frauen, ich sage: Vor sechzig Jahren fing es an, die Türken wanderten ein, man nannte sie Ausländer, wie nennt man sie heute, liegt darin Heil, daß sie hergekommen sind, oder mag man sich mit ihnen nicht so recht befassen?

Der erste, an den ich gerate, ist ein pfeifender Bauarbeiter, der die Pflastersteine gerade klopft, der Schneeregen scheint ihm nichts auszumachen. Ich bringe ihm Kaffee und Kuchen, er unterbricht kurz die Arbeit, er legt los, er sagt: ‚Du bist der Muselman von nebenan, gegen dich hab ich nix, du bist ein harmloser Nachbar. Doch drei Straßen weiter wohnt ein Messermigrant, der ist mit der Syrerwelle hergeschwappt. Was soll ich von ihm halten?‘ Für den Bauarbeiter gibt es zuviel Ausland im Inland, aber der Syrer, von dem er spricht, ist kein Messerstecher, auch wenn er finster dreinschaut. Seine Verlobte hat ein Heckenschütze totgeschossen. Er würde gerne arbeiten, er darf nicht, sein Status ist noch ungeklärt. Der Bauarbeiter hat einen langen polnischen Nachnamen, er ist deutschgeworden, der Vater war noch Pole.

Einfach ist die Wirklichkeit nirgendwo, man muß das Durcheinander aushalten. Auch ich bin im Laufe der Zeit deutsch geworden, doch das läßt der Mann, der Steine klopft, nicht gelten. Er glaubt, der Islam sei ein Gen, und ich könne nicht einfach an mir herumschneiden, ich könne es nicht herausschneiden. Was genau? Den Bluteifer. Die Hinterhältigkeit. Die Polygamie. Er sprotzt Haßparolen, bis er sich an seiner eigenen Spucke verschluckt. Ich verstehe: Für ihn bleibt jeder Fremde für immer fremd.

Ich gehe zu den Fremden im Männercafé am Ostufer. Ich bekomme Birnensaft im hohen Glas, obenauf schwimmen ganze geschälte Haselnüsse. Die Rentner vertrieben sich die Zeit mit Brettspielen, früher, vor der Seuche. Das Café steht leer, einige wenige alte Männer mit großen Händen sitzen an den Tischen, es sind Witwer, sie haben auf der Werft gearbeitet, bis man sie entlassen hat, Kummerketten rasseln an ihren Handgelenken, es sind alles Gastarbeiter, die das Land, dem sie entstammen, auch nach all den Jahrzehnten als ihre Heimat bezeichnen.

Sie könnten vor Jammer schreien, denn sie leiden an Schmerzen, ein Schmerz sitzt zwischen den Schulterblättern, ein Schmerz hinter der Stirn. Sie gehen nach der dörflichen Kleiderordnung: Ein Mann, der was gilt, trägt Jacke, Hemd und Hose. Sie erzählen keine Heldengeschichten aus ihrer ersten Zeit in Deutschland. Sie erzählen: Für Arbeit gab’s Geld, und für das Geld gab es all die schönen modernen Sachen, die man sich als Dörfler nicht hätte leisten können. Ein Mann im Gastarbeiterwohnheim hat in höchster Seelennot seinem Leben ein Ende gemacht. Ein Mann hat dem Tand nachgejagt, bis man ihn aus dem Lande warf. Ein Mann war Revolutionär, er wollte die Menschen mit seinen Worten in Aufruhr bringen, die deutsche Polizei kam dahinter und wies ihn aus. Ein Mann fiel auf der Arbeit tot um, die Zeit war erfüllt.

Sie saugen beim Reden die Maske ein, sie müssen gelegentlich die Maske über die Nase ziehen. Der Tod hat große Lücken in ihre Reihen gerissen, sie schlagen sich wacker, und der Älteste sagt: ‚Ich gab meine Ehre nicht her für ein Linsengericht aus der Hand eines Ehrlosen.‘ Die Männer nicken, und sie ziehen an den Perlen ihrer Gebetskette, immer wieder lüftet der Lokalbesitzer die Räume.

Draußen lauern ihre verhärmten Söhne. Man könnte sie leicht für Ghettostrizzis halten. Es sind in diesem Falle junge höfliche Männer, die die Schultern gegen den kalten Wind einrollen. Ich frage: ‚Deutsch oder fremd?‘ Blöde Frage. Es geht hier nicht zu wie im Soziologieseminar. Sie haben ein deutsches Leben, das ist klar. Es sind Arbeitersöhne, die ihnen angedichtete Zerrissenheit nennen sie zu Recht eine Lüge. Sie gehen nicht an die Orte, an denen die Bürgerkinder sich aufhalten. Ein junger Mann erzählt: ‚Ein deutscher Bekannter fragt mich, ob die Heiligkeit meiner Schwester über alles steht. Ich sage: Wer sie anmacht, schluckt die Kugel. Das war ein Witz. Der Bekannte glaube aber, ich meine es ernst.‘ Hat denn eine Frau für sie nicht gefügig, gelenkig und gebärtüchtig zu sein? Warum haben sie keinen guten Ruf, wenn es um Frauen geht? Glauben sie denn nicht, daß Scham und Schicklichkeit des Weibes Zierden seien? Ihre Verlegenheit rührt daher, daß ein wildfremder Mensch sie nach Einzelheiten ihres Lebens befragt. Sie werden verdächtigt, sie sollen sich ausweisen. Sie lassen mich stehen, sie turnen an den Klimmzugstangen im Hinterhof, es geschieht mir recht, denn Schwarz und Weiß gibt es nur im neuen deutschen Fernsehen.

Da stößt man auf eine Staatsanwältin mit Kopftuch und eine schwarze Kommissarin. Was stimmt daran nicht? Die Vorzeigemodelle sind angezogen wie Models, sie kommen, wie ihre echtdeutschen Kolleginnen nicht ohne Stöckelschuhe aus. Das ist eine künstliche, unglaubwürdige Welt, das sind alles nur Kulissen. Wir sollen uns die Augen nicht reiben, wir sollen die Natürlichkeit der Bilder nicht anzweifeln, wir sollen zu besseren Menschen erzogen werden. Es wimmelt in den Medien nur so vor bekränzten Helden und Heldinnen der Integration. Was ist ihnen allen zueigen? Es sind gute Ausländer, es sind aber auch bunte, sehr langweilige Papiermigranten, mit denen man im wirklichen Leben keinen Umgang haben wollte. Eine gute Frisur ersetzt nicht den Verstand. In die abendlichen Plapperrunden lassen sich die immergleichen Pappkameraden und Pappkameradinnen einladen. Was haben sie zu sagen? Nichts von Belang, nichts, was uns weiterbringt. Sie plappern denselben Quatsch daher wie die Echtdeutschen. Sie haben eine fatale Wirkung, denn sie signalisieren: Wer sich anpasst, trägt einen ernstlichen Schaden davon. Was tun?

‚Ihr müsst hier raus!‘, sagt die gewendete Linke, die mich in ihrer Wohnung im Stadtkern huldvoll empfängt. Sie sieht in mir einen Metöken, einen fremden Ansiedler, der sich erdreistet, im neuen Land Wurzeln zu fassen. Schon nach einer Viertelstunde spricht sie den ungeheuerlichen Satz: ‚Die getauften Juden hat man auch ausgerottet.‘ Sie verweist auf die Perser und Afghanen, die zum Schein zum Christentum übertreten, um einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu erschleichen. Der Moslem könne sie mit seiner dämonischen Schläue nicht täuschen, sie sei allzeit wachsam und bereit. Was heißt das? Sie rechnet mit Aufständen, mit blutigen Gemetzeln, vielleicht kommt es sogar zu einem Bürgerkrieg. Das Anwerbeabkommen vor sechzig Jahren ist in ihren Augen ein Verrat am Volk gewesen. Entweder oder: Entweder verlassen die Millionen Moslems auf staatliche Veranlassung das Land. Oder sie werden durch nationale Kämpfer und Kämpferinnen dazu veranlaßt. Woher kommt ihr Haß? Sie will es mir nicht verraten. Sie sagt: ‚Ratten sind Menschen mit rosigen Schwänzen. Menschen sind Ratten mit schnellenden Zungen.‘ Sie muß nicht deutlicher werden, es ist klar und ersichtlich, wen sie als Untermensch und Vieh einstuft. Sie steht nicht alleine da: Tatsächlich hat sich ein Kampfbund der Hexerjägerinnen formiert, es sind vornehmlich weiße alte Frauen mit einem unbändigen Haß auf Moslems. Migrant, Türke, Hintergrund-alles egal. Nicht egal ist der Islam, dann ich Schluß mit lustig. Die klassischen Feministen und die Rechten haben ihr Thema gefunden: Die Gefahr droht vom Muselman, der in die Nachbarschaft einzieht. Das ist ein anderer Menschenschlag, da kann man nicht mit Humanismus und guten Worten kommen. Da muß man den Feind markieren, und also nennt man ihn Unflat, Müll, Drecksgeschmeiß. Ein Landfremder kann kein Landsmann sein. Für die nazifizierte Ex-Linke gibt es keinen Zweifel: Wegen meines Namens, wegen meiner Kultur, wegen meines Glaubens bin ich nicht von hier, ich bleibe fremdländisch. Ich bin völlig unbrauchbar, ich soll mich zu meinesgleichen scheren.

Ich tauche ein in eine fremde Welt, ich gehe zu den Sektierern, die sich in einem großen Gebetshaus verschanzt haben. Ich frage: ‚Sie sind nicht frei in Deutschland, und weshalb verdammen Sie die deutsche Freiheit? Wo ist Ihr Gelobtes Land? Warum haben Sie schlechte Laune?‘

Natürlich habe ich nicht mit einer gnädigen Aufnahme gerechnet. Die Nazis träumen den Traum von der großen Aussonderung. Die Männer im Gebetshaus warten als Erwählte auf die Ankunft des Messias‘, auf den Heiland, der Gut von Schlecht scheiden wird. Sechzig Jahre deutsches Leben kümmert sie wenig. Sie wollen nicht mehr sein als Diasporagläubige, die ihrer Nationalkirche anhängen. Ein Islam, der in Deutschland beheimatet ist, scheint ihnen recht abwegig. Sie haben sich verkapselt, sie haben sich verpanzert, die Sünde der Welt wird nicht eindringen. Ein junger Mann im Wettermantel, der aussieht wie ein Apostel der letzten Tage, sagt: ‚Ich habe eine Wut auf die alte Welt, die nicht sterben will.‘ Er will die Zeit nicht verplaudern. Er will nicht Dienst hinter den vorderen Linien verrichten. Er sagt: ‚Die Kampfweise eines Kriegers ist stets fanatisch.‘ Er krümmt sich vor Wut, weil ich ihn und seine Worte anzweifele. Ich bin hier, weil ich mich in einer von vielen Szenen der Spätdeutschen umsehen möchte. Er verübelt mir zu Recht die Zuschreibung. Was ist er, was will er sein? Ihn bindet das Heilige Buch. Ihn binden aber auch die Bräuche seiner Väter.

Jeder hält die eigene Identität für die angemessene, für die bestmögliche Lebensform. Dies Ichbewußtsein halte ich aber für ein Zeitgeistphänomen. Was habe ich denn gewonnen, wenn ich meine Eigentümlichkeit benenne, wenn ich sie gegen die als verspießt gesetzte Mehrheitsmoral in Stellung bringe? Was ist derart spannend an der Nämlichkeit, an der Selbstübereinstimmung? Seltsamerweise predigen die Linken und die Rechten aller Ethnien die Identitätspolitik: Wer sich markiert, gilt als hipper als ein Hipster. Überall sehe ich krähende, schlecht gelaunte Aktivisten, sie sind empfindlich, und aber nicht empfindsam. Deutschland besteht aus Selbsterfahrungsgruppen. Es bedient sich fast jeder des Therapeutenjargons.

Ich trete hinaus aus dem Sektenhaus, in dem jeder, der das Brauchtum verwirft, als Drückeberger verlästert wird. Was eine Verblendung: Man glaubt, das Weltwesen sei identisch mit dem eigenen Westen. Nicht den Selbstgewinn, den Selbstverlust gilt es anzustreben, es sei denn, man strebt ein Leben in der Blase an. Jeder will ein Exot sein, jeder möchte seine Besonderheit ausstellen wie eine Ware. Unwandelbar, so heißt es, ist die Ichheit, unwandelbar dagegen die Gestalt. Die vervielfältigte Form ist aber nicht mehr als eine Mehrzahl, sie bedeutet keinesfalls eine Ansammlung von vielen Originalen. Sechzig Jahre danach haben wir es damit zu tun, daß sich die Menschen der Minderheiten sortieren. Sie finden sich fast alle ohne Ausnahme sichtbar abgebildet im bundesdeutschen Durchschnitt, und also im Mittelmaß. Wer fällt darauf rein? Wer lehnt es ab, Teil des Sortiments zu sein? Ethno-Kitsch hat die Sachlichkeit ersetzt.

Schon in den 1980ern war die Unterscheidung durch Abgrenzung überkommen. Heute darf ein Deutschtürke, der anläßlich eines Länderspiels in der Einkaufsstraße eine mannsgroße türkische Fahne schwenkt, auf Verständnis hoffen: Die Treue zu seiner vermeintlichen Kultur wird von den Linken und den Rechten als nicht unnatürlich akzeptiert. Unwandelbar zugehörig ist er dem Kulturkreis, umwandelbar und nicht festgeschrieben ist seine Erscheinung. Die Fälscher der Fakten lieben die Spekulation, sie lieben die Färbung der Worte, mit der sie sich lieber beschäftigen als mit dem Umsturz einer falschen Ordnung. Ein Deutschtürke, der sich zum Türken macht, hat nicht der Massenidentität getrotzt. Er hat dem Drang nach dem eindeutigen Gefühl nachgegeben. Im Deutschland meiner Tage wird die Abgrenzung durch grelle Unterscheidung großgeschrieben. Was geschieht in den Szenen der Türkeistämmigen? Die jungen Frauen und Männer loben die schlichte Volkstümlichkeit. Sie sprechen von der Kernigkeit der echten Türken und Kurden aus dem Stammland. Sie vergießen Tränen, wenn sie von den Kämpfen in der Türkei sprechen. Was ist mit den Kämpfen ihrer Mütter und Väter in Deutschland?

Es begann vor sechzig Jahren, weshalb übergeht man diesen Anbeginn? In den Wahnbildern der Heimkehr, der Reinblütigkeit, oder aber auch der völligen Selbstauflösung scheint der Fremdgewordene gefangen zu sein. Das ist nicht die Gegenwart, das ist eine bloße Heutigkeit. Man sollte sich nicht zu einem geeigneten Element einer falschen Vorstellung von der Welt machen. Was aber ist richtig? Nicht die herkömmliche Auffassung. Nicht die Mehrheitsmeinung. Nicht der Jargon von Splittergruppenfanatikern. Nicht die Angst vor der Fülle der Fakten. Das ist der Stand der Dinge. Es muß besser werden. Es erzähle ein jeder von seinem deutschen Leben.

Feridun Zaimoglu

Das Video der Veranstaltung mit dem Gespräch über diesen Text zwischen Feridun Zaimoglu und Eren Güvercin:

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