Impulsvortrag von unserem Beiratsmitglied Murat Kayman auf dem Muslimischen Quartett „Kein Kopftuch, kein Kreuz, keine Kippa? – Religionsfreiheit in einer säkularen Gesellschaft“ im Haus der Religionen in Hannover.
Die Frage setzt voraus, dass alle, die eine Antwort darauf formulieren, genau wissen, was diese Frage bedeutet. Sie setzt voraus, dass alle wissen, was eine säkulare Gesellschaft ist. Und sie setzt auch voraus, dass alle wissen, was Religionsfreiheit ist. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Gleichwohl verdeutlicht uns aber die Realität einer andauernden verstärkten Debatte um Religion und religiöse Sichtbarkeit in unserer Gesellschaft, dass diese Begriffe häufig missverstanden werden.
Manche gehen davon aus, dass in unserer Gesellschaft Staat und Kirche strikt getrennt seien – ähnlich dem laizistischen französischen Modell. Das Motiv für einen solchen Irrtum liegt häufig in dem Wunsch, Religion gänzlich aus dem staatlichen Bereich herauszuhalten – vielleicht gerade auch wegen des Islam.
Gleichzeitig wird häufig ausgeblendet, dass der säkulare Staat unseres Grundgesetzes in religiösen Fragen völlig inkompetent sein müsste. Der Staat soll also nicht nur nicht wissen dürfen, sondern er soll ausdrücklich nicht wissen können, was eine gute oder schlechte, was eine falsche oder richtige Religion ist.
Dennoch haben wir beobachten müssen, dass in Schulgesetzen religiöse Bekundungen des Lehrpersonals verboten aber gleichzeitig Privilegierungen für jüdische und christliche religiöse Bekundungen festgeschrieben wurden. Um die Verfassungswidrigkeit einer solchen Ungleichbehandlung gerichtlich festzustellen, haben wir gut 15 Jahre gebraucht.
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Religionsfreiheit. Sie wird in all ihren Facetten, von der Glaubensfreiheit über die Bekenntnisfreiheit bis hin zur auch öffentlichen Religionsausübungsfreiheit, durch unsere Verfassung garantiert.
Gleichwohl haben wir es in vielen Bereichen unserer Gesellschaft mit der Vorstellung zu tun, man habe ein Recht darauf, von fremden religiösen Bekundungen verschont zu bleiben. Jede Sichtbarkeit einer derart als fremd empfundenen Religion im öffentlichen Raum wird in diesem Miss-Verständnis nicht als gelebte Wirklichkeit einer pluralistischen Gesellschaft wahrgenommen, sondern als Überfremdung bis hin zu der Vorstellung eines drohenden Bevölkerungsaustausches.
In die Wahnhaftigkeit einer solchen Vorstellung passt es denn auch, dass die Zahl der Muslime in Deutschland bei öffentlichen Umfragen häufig mit einem Anteil von 20 % geschätzt wird, obwohl der tatsächliche Bevölkerungsanteil bei etwa 5 % liegt – also nicht jeder Fünfte, sondern nur jeder Zwanzigste in unserer Gesellschaft ist muslimischen Glaubens.
Vielleicht hilft es, wenn wir die Frage nach der Religionsfreiheit in einer säkularen Gesellschaft auf eine klarere Formel reduzieren: Wie wollen wir angesichts einer zunehmenden gesellschaftlichen Vielfalt unser friedliches Zusammenleben sicherstellen?
Dies ist durchaus keine neue Frage. Sie hat – wenn sie im Zusammenhang mit konfessioneller Vielfalt gedacht wird – in Deutschland eine fast 500-jährige Vorgeschichte.
Eine erste Antwort auf diese Frage und damit das historische Fundament unseres Verständnisses von Religion und staatlicher Ordnung gibt und legt der Augsburger Religionsfrieden von 1555. Im Reichstag von Augsburg einigten sich die Reichsstände und der Kaiser auf einen Land- und Religionsfrieden, der nicht nur als historischer Ursprung unseres Religionsverfassungsrechts zu betrachten ist. In ihm sind auch Denkstrukturen und das Selbstverständnis von Staat und Religionen angelegt, die sich bis in unsere heutigen Tage auswirken.
Religionsfreiheit wurde damals nicht als Freiheitsrecht der Untertanen verstanden. Sondern als Freiheit der Reichsfürsten, ihre christliche Konfession zu wählen und damit die Glaubensrichtung aller ihrer Untertanen zu bestimmen. Dieses ius reformandi ließ sich auf eine einfache Formel reduzieren: cuius regio, eius religio – wessen Land, dessen Religion.
Dem gegenüber hatte der einfache Untertan, der nicht so glauben wollte, wie sein weltlicher Fürst, nur die Möglichkeiten, welche ihm das ius emigrandi eröffnete – nämlich sich unter Ablösung von weltlichen Schulden und Leibeigenschaft von seinem Herren freizukaufen und dessen Territorium zu verlassen. Also dorthin auszuwandern, wo alle so glauben, wie man selbst.
Heutzutage fühlt man sich an dieses Verständnis von Staat, Religion und Freiheit erinnert, wenn man die gesellschaftlichen Debatten verfolgt, in welchen das „jüdisch-christliche Erbe“ allen anderen Andersgläubigen, allen voran Muslimen, wie eine Monstranz des Zusammenlebens vorgehalten wird. Oder in denen von Leitkultur gesprochen wird, die man sich zwingend anzueignen habe – oder besser gleich woanders hinzieht.
Dabei gibt unsere geltende Verfassungsordnung auf die Frage, wie wir zusammenleben wollen, eine klare Antwort: nämlich pluralistisch, aber in dieser Vielfalt und Verschiedenheit doch gleichberechtigt.
Bei der Suche nach der praktischen Umsetzung dieser theoretischen Vorgabe begegnen wir dem vielfach bekannten Böckenförde-Diktum. Der frühere Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde stellt in seinem Werk „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ die Frage, worin der säkulare Staat die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte der Freiheit, deren er bedarf, findet, nachdem die Bindungskraft der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann?
Böckenförde formuliert auf diese Frage seinen bekannten Satz: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Und weiter: „Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ In: Recht, Staat, Freiheit. 2006, S. 112 f.)
Zwei Formulierungen zeigen die Problematik und zugleich vielleicht auch Lösungsansätze auf, die sich in Böckenfördes Worten niederschlagen: Er geht von einer „homogenitätsverbürgenden Kraft“, von der „Homogenität der Gesellschaft“ aus.
Wie aber kann unsere Antwort auf die Frage unseres Zusammenlebens lauten, wenn wir von der Wirklichkeit einer zunehmend diversen und heterogenen Gesellschaft ausgehen müssen?
Was sind die freiheitlichen Regulierungskräfte, wenn sich die Bürger in ihrer Verschiedenheit und Vielfalt nicht aushalten, nicht wertschätzen, nicht achten wollen?
Kann der Staat dann nur noch mit Verboten und der Ausgrenzung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum reagieren?
Muss dann eine Art Grundsatz der „Freiheit durch öffentliche Homogenität“ gelten?
Soll religiöse Verschiedenheit dann nur noch in der Rolle des Privaten den Anspruch auf Freiheit erheben dürfen?
Wird der freiheitliche Staat, nach dessen Bewahrung wir streben, damit nicht erst recht preisgegeben?
In der Zurückweisung einer zweiten Formulierung Böckenfördes kann ein Schlüssel zum besseren Verständnis liegen: Nach Böckenfördes Formulierung ist Freiheit etwas, dass der Staat seinen Bürgern gewährt. Von dieser Vorstellung müssen wir uns lösen.
Unsere Freiheit wird nicht durch den Staat gewährt. Der Staat ist nicht mehr unser Reichsfürst, der uns mit seiner Wahl des Glaubens nur die gleiche Freiheit gewährt, die er selbst für sich beansprucht. Freiheit ist kein Gnadenakt des Staates.
Unsere Freiheit wird uns durch unsere Verfassung garantiert!
Das ist unsere historische Lehre aus den Ermächtigungsgesetzen der NS-Diktatur. Es gibt unverrückbare Grundrechtsgarantien, wie eben die Religionsfreiheit – sie wird uns nicht gewährt, sondern garantiert. Und zwar ohne die Voraussetzung von gesellschaftlicher Homogenität, sondern gerade auch und insbesondere dann, wenn sie Heterogenität, also Verschiedenheit und Andersartigkeit des einzelnen Bürgers bedeutet.
Der Staat steht in der Pflicht, dieser Freiheitsgarantie die Achtung und den Schutz durch all seine Institutionen zu gewähren.
Daraus folgt diese abschließende These:
Das Böckenförde-Diktum hat in dem Maße Geltung und Bedeutung, wenn es auch in einer Formulierung wirksam ist, die von der Religion her gedacht wird:
Die Religion in einem freien und säkularen Staat lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Die religiöse Vielfalt einer Gesellschaft kann sich nur dann als eine das Zusammenleben fördernde Kraft entfalten, wenn sie sich auf Voraussetzungen stützt, die sie selbst nicht geschaffen hat. Denn jeder Religion liegt – mal mehr, mal weniger – ein Anspruch auf Absolutheit oder gar Exklusivität zu Grunde.
Das wiederum bedeutet, dass der säkulare und freiheitliche Staat über nicht-religiöse Voraussetzungen verfügen muss, die ihm selbst zu eigen sind: nämlich die Achtung und der Schutz der Freiheit seiner Bürger, auch öffentlich und sichtbar anders zu sein – nicht nur, aber gerade auch in Fragen der Religion und Religionsausübung.
Vollständige Video-Aufzeichnung des Muslimischen Quartetts „Kein Kopftuch, kein Kreuz, keine Kippa? – Religionsfreiheit in einer säkularen Gesellschaft“: