In den Integrationsdebatten der letzten 20 Jahre wird viel über die junge Generation gesprochen. Was allerdings in dem ganzen Getöse untergeht, sind die spannenden Geschichten der sogenannten ‚Gastarbeiter‘ oder ‚Kontingentflüchtlinge‘. Ich habe mir immer wieder vorgenommen, die Geschichte meiner Eltern und ihrer Generation – sei es in Buchform oder in Form eines Dokumentarfilms – einmal festzuhalten. Denn immer wenn ich mit vor allem Frauen aber auch Männern dieser Generation zusammensitze, bekommt man Erfahrungsberichte zu hören, die insbesondere für die jüngeren Generationen viel Stoff für Reflexion bieten. Gerade meine Generation kann sich kaum vorstellen, unter welchen Umständen ihre Eltern oder Großeltern in den 1960er und 70er Jahren nach Deutschland kamen, mit welchen Herausforderungen sie zu kämpfen hatten, und vor allem wie mutig dieser Schritt war.
Das soeben erschienene Buch „Mutige Entdecker bleiben“ ist ein wichtiger Beitrag für die Sichtbarmachung eben dieser besonderen Generation. Es ist im Rahmen des jüdisch-muslimischen Dialogprojekts “Schalom-Aleikum” des Zentralrats der Juden erschienen. Das Projekt wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Frau Staatsministerin Annette Widmann-Mauz, gefördert. Schalom-Aleikum hat sich zum Ziel gesetzt, das jüdisch-muslimische Gespräch deutschlandweit und milieuübergreifend auf eine neue Ebene zu heben. Dabei geht es nicht um einen Dialog auf Funktionärsebene, sondern um einen offenen Austausch auf Augenhöhe zwischen jüdischen und muslimischen Akteuren der Zivilgesellschaft. Neben unterschiedlichen Veranstaltungsformaten soll auch eine Publikationsreihe entstehen. Neue Themen, Akteure und Gespräche sollen in weiteren Publikationen hinzukommen. Am Ende des Vorhabens soll einer breiten interessierten Öffentlichkeit eine Art gesellschaftlicher und politischer Gesamtkatalog “Schalom Aleikum” vorgestellt werden.
Den Anfang dieser Reihe macht das Buch „Mutige Entdecker bleiben“ mit einer Sammlung von Geschichten von Jüdinnen, Musliminnen, Juden und Muslimen nach 1945. Porträtiert werden die spannenden und lehrreichen Lebensgeschichten von 10 Juden und Muslimen. Wie sind sie nach Deutschland gekommen, was haben sie gefühlt, welche schönen und schwierigen Erfahrungen haben sie gemacht? Bei allen Biographien wird eines in diesem Band deutlich: Es mag Unterschiede geben, aber alle haben mit ähnlichen Widrigkeiten zu kämpfen gehabt, und sie haben uns jungen Juden und Muslimen sehr viel zu erzählen und vor allem auch sehr viel mitzugeben!
Die Lebensleistung, die Erfahrungen und die Verdienste älterer Menschen werden zu häufig übersehen, nicht wertgeschätzt oder leider sogar missachtet. Dabei können wir aber von diesen Menschen viel lernen, wenn wir aufmerksam zuhören. Wie Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, und Dmitrij Belkin, Projektleiter von „Schalom Aleikum“, in ihrem Vorwort zu diesem Band betonen, hat diese Generation von Juden und Muslimen zur Entwicklung dieses Landes wesentlich beigetragen. „Diese Generation von Juden und Muslimen sind keine „Gastarbeiter“ oder „Kontingentflüchtlinge“, sondern sie stellen Deutschland dar.“
Inessa Goldmann etwa wurde in der Ukraine geboren, lebte mit ihrer Familie in Lettland und kam erst 1991 im Alter von 38 Jahren nach Deutschland. Da in Lettland Religionsausübung kaum möglich war, hatte sie kaum Wissen darüber, wie sie ihr Judentum leben konnte. Erst als sie als ‚Kontingentflüchtling‘ mit ihren zwei Kindern nach Osnabrück kam, wurde sie durch die jüdische Gemeinde dort in die Religion eingeführt. Ihr Sohn studierte dann später in Jerusalem und wurde Rabbiner. Zunächst kam die Familie Goldmann in einem provisorischen Wohnheim unter, eine Erfahrung, die auch nicht wenige türkeistämmige ‚Gastarbeiter‘ in den 60er und 70er Jahren gemacht hatten. Einige Zeit später fand die Familie eine eigene Wohnung in der Osnabrücker Innenstadt. Schnell schloss die Familie Goldmann Freundschaften mit den türkischen Nachbarn. Als diese mitbekamen, dass die neuen jüdischen Nachbarn mit wenig Geld auskommen mussten, zögerten sie nicht zu helfen. „Eines Tages kamen wir nach Hause und vor der Tür standen mehrere Tüten mit Lebensmitteln. Diese warmherzigen Willkommens-Grüße beeindruckten mich nachhaltig“, erzählt Inessa Goldmann. Dieses Erlebnis sei für sie eine Inspiration gewesen sich 2015 für die Flüchtlinge einzusetzen, um die Hilfe zurückzugeben, die ihrer Familie damals zuteil wurde.
Eine andere beeindruckende Geschichte hat Sefalet Hizarci zu erzählen. Sie wurde 1942 in der Türkei geboren. 1971 kam sie nach Deutschland, besuchte nie eine Schule und ist bis heute Analphabetin. Sie lernte aber trotzdem Deutsch, weil es für sie selbstverständlich war. „Ich lernte durch Gehör“, sagt sie. Durch den Kontakt zu ihren deutschen Nachbarn und Arbeitskollegen eignete sie sich die Sprache an. Durch die Freundschaft zu griechischen Nachbarn lernte sie aber auch Griechisch. Sie hat drei Kinder großgezogen, alle drei haben studiert, und arbeiten mittlerweile als Lehrer oder Rechtsanwälte.
Auch von den Diskriminierungserfahrungen der älteren Generation von Juden und Muslimen wird in diesem Band berichtet, wie sie damit umgegangen sind, was es aus ihnen gemacht hat. Sefalet Hizarci etwa erzählt von einem Vorfall in der U-Bahn. Eine Dame setzt sich zunächst lächelnd zu ihr, fragt aber dann plötzlich: „Warum tragen Sie Kopftuch?“ Sie fragte daraufhin zurück: „Warum tragen Sie kein Kopftuch?“ Antwort: „Weil ich Deutsche bin!“ Sefalet Hizarci bleibt gelassen und sagt: „Ich trage Kopftuch, weil ich Muslima bin.“ Da bleibt ihr Gegenüber sprachlos, weil sie wohl erwartet hatte, dass sie es mit einer unmündigen Frau zu tun hat, die sich nicht zu wehren wisse. Viele Menschen projizieren auf die ältere Generation der Einwanderer ihre Vorurteile, und wenigen ist überhaupt bewusst, was diese Generation geleistet hat.
In einem Interview sagte die Schauspielerin und Autorin Renan Demirkan 2009 über das weit verbreitete Klischee, dass die Frauen der ersten Einwanderergeneration ungebildet und primitiv seien, mit dem Beispiel ihrer eigenen Mutter: „Ganz sicher gehört meine Mutter zu dieser großen Gruppe der Menschen, die man landläufig ganz gerne als ungebildet abtut. Ich versichere ihnen und dem Rest der Welt, dass meine Mutter, selbst wenn sie das enzyklopädische Alphabet nicht so gut kannte, eine Meisterin des Lebensalphabets war. Meine Mutter erspürte das Leben besser als jeder Wissenschaftler es zu analysieren vermag. Eine Unbelesene, die wesentlich wissender war über die Dinge des Alltags, als ein Belesener es jemals sein wird. (…) Diese Leute, die hierherkommen, laufen wirklich mit offenen Augen und Armen in dieser Gesellschaft herum. Auch wenn sie nicht vieles begreifen, so stellen sie doch Fragen. Auch wenn sie nicht alle Antworten verstehen, so bleiben sie da und suchen weiter. Sie werden nur nicht so sichtbar wie all die, die hier laut von sich reden, weil sie es nie gelernt haben, sich sichtbar zu machen.“
Das Buch „Mutige Entdecker bleiben“ schafft es, die Aufbruchsstimmung dieser Generation greifbar zu machen. Die unterschiedlichen Protagonisten dieser Generation von Juden und Muslimen treten aus dem anonymen Raum heraus und bekommen eine Stimme. Der deutsche Schriftsteller Feridun Zaimoglu bezeichnet einmal diese Menschen als die „goldene Generation“: „Heute fällt es schwer, die Aufbruchsstimmung des großen goldenen Anfangs zu begreifen. Man muss sie aus dem historischen Dunkel herausstellen als die wahren Heldinnen der Einwanderung.“
Die im Interview-Stil verfassten Porträts des Bandes beschreiben auch die persönliche Haltung zum Judentum und Islam, ihre Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Religion sowie die Beschäftigung mit den anderen Religionen und Kulturen. Damit beleuchten sie einen Aspekt, der in der historischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung bislang kaum Beachtung fand. Auffallend ist auch, dass nicht wenige Juden und Muslime dieser Generation erst mit der Ankunft in Deutschland, in einer zunächst fremden Umgebung, ein religiöses Bewusstsein entwickelten und sich tiefergehend mit der Religion der Eltern auseinander setzten.
Die Geschichten dieser Menschen können eine Brücke zwischen den Generationen und Religionen schaffen. Und gerade in Zeiten, in denen ganz unterschiedliche ideologische Akteure – von deutschen bis zu türkischen Identitären – systematisch Ressentiments und Hass zwischen Juden und Muslimen und gegenüber Minderheiten insgesamt schüren, ist es wichtiger denn je, von den Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern zu lernen und unsere eigenen Lehren daraus zu ziehen.
Mutige Entdecker bleiben
Jüdische und muslimische Senioren im Gespräch
Zentralrat der Juden in Deutschland (Hg.)
Schalom Aleikum Bd. 1
Sprache: Deutsch
80 Seiten, Broschur
42 Abbildungen
ISBN: 978-3-95565-369-9
Erschienen: 2019
12,90 €
Bestellung: https://www.hentrichhentrich.de/buch-mutige-entdecker-bleiben.html