Von Murat Kayman, Gründungs- und Beiratsmitglied der Alhambra Gesellschaft
Bei dem Mordversuch an Salman Rushdie geht es nicht vorrangig um die Frage, ob das Ereignis einer satanischen Einflüsterung falscher Koranverse und die anschließende Korrektur dieser Verse durch eine göttliche Offenbarung historisch tatsächlich stattgefunden hat. Rushdie behandelt in seinem Roman in wiederkehrenden Wandlungen vielmehr die Frage des fundamentalen Zweifels an absoluten Gewissheiten und am „Absolutismus des Reinen“ – im Bezug zur Religion und im Bezug zur Identität.
Ob Muslim oder nicht, jeder und jede darf eine Meinung zu der Frage haben, ob Religion und damit auch der Islam absolute Gewissheit in sich trägt. Und natürlich darf man zu dem Ergebnis kommen, dass das nicht so ist. Denn das macht das Wesen des Glaubens doch aus: den rationalen, den manchmal sehr naheliegenden Zweifel zu überwinden und zu glauben, dass uns keine Dichtung, kein Irrtum, keine Einflüsterung und keine Verfälschung überliefert wurde, sondern göttliche Wahrheit.
Jeder glaubende Mensch muss doch zum Beispiel daran zweifeln, ob Maria tatsächlich auf wundersame Weise durch den Willen Gottes geschwängert wurde – und nicht durch ein viel wahrscheinlicheres biologisches Ereignis.
Manchmal überwiegt der Zweifel und man kann nicht oder nicht mehr glauben. Das ist eine höchstpersönliche Entscheidung – oder besser ein Zustand. Und auch dieser Zustand ist nicht endgültig. Er ist wandelbar und beidem unterworfen: der Annäherung an den Glauben und dem sich Entfernen vom Glauben.
An diesen Zuständen ist nichts Satanisches, nichts Blasphemisches. Diese Zustände machen unser Wesen als unvollkommene Menschen aus. Und auch das zeigt Rushdie in seinem Roman: wie der Mensch immer wieder getrieben wird durch Eifersucht, Hass, Neid, Missgunst und Verachtung. Und wie der Mensch anderen Eifersucht, Hass und Gewalt einflüstert – wie sich der Mensch selbst zum Satan wandelt und satanische Verse hervorbringt.
Genau dieser Punkt wirkt in der Rückschau wie eine Prophezeiung Rushdies im Hinblick auf die Verachtung und Tötungsbereitschaft, die ihm von Muslimen widerfährt.
Er soll in seinem Roman nicht mehr mit den Gedanken spielen, der gesamte Koran könnte das Ergebnis einer satanischen Einflüsterung sein. Er soll nicht mit den Gedanken spielen, der Prophet könnte sich des praktischen Nutzens wegen vermeintlich „göttlicher Offenbarungen“ bedient haben, um Anhänger um sich zu scharen und seiner ganz persönlichen Meinung Nachdruck und Glaubwürdigkeit zu verleihen. All diese Gedanken lehne ich als Muslim ab. Aber ich muss, gerade weil ich Muslim bin, mich für die Freiheit eines jeden Menschen einsetzen, solche Gedanken nicht nur zu denken, sondern sie auch zu äußern.
Denn die Meinungsfreiheit ist keine „westliche“ oder fremde Idee, mit der meine Religion relativiert oder herabgewürdigt werden soll. Sie ist – meinem Verständnis nach – der Kern meines Glaubens. In meinem Buch „Wo der Weg zur Gewalt beginnt“ habe ich dazu diese Gedanken ausgeführt:
„Was Adam gegenüber den anderen durch Gott erschaffenen Wesen auszeichnet, ist die Tatsache,
dass Gott Adam die Namen all jener Dinge lehrt, die er erschaffen hat (vgl. Sure 2, 31). Und mehr noch: Adam verfügt nicht nur über den ihm von Gott verliehenen Verstand. Er nutzt diesen Verstand nicht nur, um die Namen aller erschaffenen Dinge zu lernen. An diesem Punkt der koranischen Schilderungen kommt eine weitere Eigenschaft Adams hinzu: Gott konfrontiert Adam mit den von ihm zuvor erschaffenen Engeln. Doch nur Adam ist in der Lage, vor Gott und den Engeln die ihm beigebrachten Namen der erschaffenen Dinge zu nennen (vgl. Sure 2, 32–33).
Adam nutzt seinen Verstand also nicht nur in stiller Reflexion, nicht nur in innerer Einkehr und Besinnung. Gott betont in seiner Offenbarung, dass Adam seine ihn auszeichnende Persönlichkeit vielmehr durch den Moment der freien Äußerung des ihm bekannten Wissens ausdrückt. Den Engeln ist dies im Kontext dieser Koranverse offenkundig nicht möglich. Vor dieser Eigenschaft Adams, sich seines Verstandes selbstständig zu bedienen und sein Wissen zu äußern, verneigen sich die Engel.
An dieser Stelle nehmen die Koranverse eine interessante Wendung: Es ist der Engel Iblis, der sich weigert, sich vor Adam zu verbeugen. Iblis geht es nicht um die Fähigkeit Adams, nicht um das Wissen und die Kundgabe dieses Wissens durch die gesprochenen Worte Adams. Iblis geht es um die Eigenschaft seiner Stärke. Er ist aus Feuer erschaffen, Adam hingegen aus Lehm. Äußere Macht, faktische Stärke will sich nicht vor dem Wort, das Wissen ausdrückt, verbeugen. Gott wertet dieses Verhalten als bewusste Abkehr von der Erkenntnis seiner Realität (vgl. Sure 2, 34).
Der in den Lehm der menschlichen Schöpfung eingehauchte Geist Gottes (vgl. Sure 38, 72) wird durch die Anwendung des dem Menschen verliehenen Verstandes weltliche Realität. In dem Moment, in dem dieser Verstand sich im gesprochenen Wort ausdrückt, erlangt er durch die Luft, die der Mensch in seiner Kehle und in seinem Mund zu Worten formt, konkrete Gestalt in der Welt. Vielleicht ist auch dies gemeint, wenn Gott versichert, er sei dem Menschen näher als dessen Halsschlagader (vgl. Sure 50, 16).
Was sonst wäre dem Menschen näher als die Luft, die er einatmet, die für das Leben unverzichtbar ist, die in alle Körperzellen des Menschen eindringt und die er beim sprechenden Ausatmen zum Boten seines Verstandes werden lässt, den Gott ihm eingehaucht hat? Anders ausgedrückt: Die Meinungsfreiheit ist der unmittelbarste Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit, der Eigenschaft, ein von Gott erschaffenes Wesen zu sein, das sich von allen anderen Schöpfungen Gottes gerade durch diese Freiheit unterscheidet. Wo diese Freiheit im Sinne der Schöpfung, Mensch zu sein, willkürlich verhindert wird, wo also der Verstand daran gehindert wird, hörbar in die Welt zu treten, kann sich kein Wissen verbreiten.
Vor diesem höchst eigenen, islamischen Hintergrund bleibt es unerklärlich, wie aus muslimischer Sicht die Meinungsfreiheit als ein »westliches Vehikel«, als ein Vorwand, Muslime zu kränken, begriffen werden kann. Die Meinungsfreiheit ist nicht Gegenspieler der Religionsfreiheit. Sie ist nach ureigenstem muslimischen Verständnis der Ausdruck menschlicher Existenz und buchstäblich die von Adam vorgelebte Urform des menschlichen Gottesdienstes. Die Meinungsfreiheit ist jenes Element eines universellen Gottesbezugs, das alle Menschen über konfessionelle Unterschiede hinweg verbindet – eine die Menschen an Gott erinnernde »re-ligio«. Freiheit ist damit nicht der Gegner des Glaubens, sondern seine unverzichtbare Bedingung. Es ist die Tragik der muslimischen Glaubensgeschichte und der Gegenwart muslimisch geprägter Gemeinschaften, dass sie trotz dieses Wissensbestands, trotz dieser Offenbarungsquellen, trotz dieser deutlichen Hinweise heute eher als Gemeinschaften wirken, die sich an der Freiheit des Menschen stören, statt diese wertzuschätzen, zu bewahren und zu fördern.“
Wer also die Meinungsfreiheit mit Gewalt verhindern will, der will mit dem Feuer des Satans den Menschen daran hindern, das anzuwenden, womit ihn Gott ausdrücklich erschaffen hat, womit er ihn überhaupt erst zum Menschen hat werden lassen.
Wer mit Gewalt und Mord den Respekt für seine Religion einfordert, der will keinen Respekt, der will keine Achtung. Der verachtet die Freiheit des anderen und will ihn mit Angst zum Schweigen bringen. Aber Angst vor der Religion, ist kein Respekt, keine Achtung für die Religion. Wer aus Angst schweigt, der respektiert nicht die Ursache dieser Angst – er verachtet sie.
Wer als Muslim die Freiheit eines anderen einschränken oder aufheben will, der hat – im oben beschriebenen Sinne – satanische Gedanken. Wer zum Mord aufruft, um Freiheit zu verhindern, gibt satanische Verse von sich. Wer andere mit Vorurteilen und Eifersucht und Hass dazu verleiten will, anderen Gewalt anzutun, flüstert satanische Verse. Wer die Freiheit hasst und sie durch Angst und Gewalt verdrängen will, ist der Satan in dieser Geschichte.
Ich höre in diesen Tagen genau hin, was öffentliche muslimische Stimmen sagen. Sie schweigen. Oder sie flüstern so leise, dass man nicht verstehen kann, wem sie welche Verse zuflüstern.
Rushdie hat keine satanischen Verse geschrieben. Er schrieb über die vielen satanischen Verse, die ihn und uns umgeben. Es muss uns nachdenklich stimmen, dass es immer wieder auch Muslime sind, die sich anfällig für die Einflüsterung von Gewalt und Mord zeigen, die immer wieder bereit sind, satanischen Versen zu folgen, statt der Friedensbotschaft unseres muslimischen Glaubens.