Warum es einen für uns in Deutschland wichtigen Unterschied zwischen den Taliban und dem IS gibt.
Warum muslimische Verbände in Deutschland zu Afghanistan schweigen – und welchen Preis sie nicht bezahlen werden.
Ein Beitrag von Murat Kayman
In einem aktuellen Freitagswort (www.freitagsworte.de) habe ich versucht zu analysieren, warum die muslimischen Verbände in Deutschland weitestgehend zu den Entwicklungen in Afghanistan schweigen. Dabei habe ich darauf hingewiesen, dass die schnelle und vehemente Distanzierung – zum Beispiel bei extremistischen Anschlägen durch Muslime – im Falle der Machtübernahme der Taliban in Kabul unterblieben ist.
Meine Erklärung dieses Schweigens thematisiert die ideelle Nähe insbesondere der türkeistämmigen Verbände zu den theologischen Überzeugungen der Taliban. Dieser Hinweis ist in ersten Reaktionen junger Muslime energisch zurückgewiesen worden. Lassen wir die üblichen persönlichen Entgleisungen mir gegenüber unbeachtet, ist der sachliche Kern dieses Abwehrreflexes kaum nachzuvollziehen.
Jungen Muslimen scheint die Vorstellung, sie würden im Grunde den gleichen Glaubensüberzeugungen folgen wie die Taliban, offenbar unerträglich. Das ist im Grunde auch gut so. Allerdings deutet diese Abwehrhaltung eher auf eine ästhetische Dissonanz hin – man will nicht so menschenverachtend, so skrupellos und unkultiviert erscheinen wie die Taliban. Denn inhaltlich lässt sich diese Zurückweisung nicht begründen.
Hier deckt sich die theologische Kurzsichtigkeit meines kritischen Publikums mit der Rhetorik der öffentlichen Berichterstattung über Afghanistan und die Taliban.
Der öffentliche Blick vermag keinen Unterschied zwischen den Taliban, dem IS, salafistischen oder wahhabitischen Gruppierungen zu erkennen. Alle werden in die Schublade „Steinzeitislamisten“ gepackt. Das ist unter Berücksichtigung der Wirkungen, die diese Gruppen entfalten, nachvollziehbar. Diese Ungenauigkeit in der Analyse versperrt jedoch den Blick auf gravierende Probleme, die uns hier in unserer Gesellschaft konkret betreffen.
Um den entscheidenden Unterschied zu beschreiben: Der islamistische Extremismus salafistischer Kreise bis hin zum IS ist ein modernes Phänomen. Er wurde erst möglich, durch eine Praxis der individualistischen, literalistischen Anwendung des Koran und vermeintlicher Prophetenzitate als Werkzeugkasten der Gewaltlegitimation. Gewalt und Terror dienen diesen Gruppen als Zweck der Bestrafung des Westens. Diese Gewalt versteht und legitimiert sich als Antwort auf erfahrenes Unrecht. Es ist auch deshalb nicht der Islam – mit seinen Jahrhunderten der intellektuellen Auseinandersetzung, einer muslimischen Gelehrtentradition, aus der ganz unterschiedliche, teils gegensätzliche theologische Gedanken und Schlussfolgerungen entstanden sind, die sich weitestgehend gegenseitig als legitim und im Rahmen dessen verorten, was Islam sein soll – der als Grundlage für den modernen Extremismus genutzt wird. Dieser Extremismus muss eher diese gewachsene Tradition und seine Vielfalt ignorieren, verdrängen und gedanklich über Bord werfen, um zu dem Ergebnis zu gelangen, das exzessive, grenzenlose Gewalt legitim ist. Dieser Extremismus ist darauf angelegt, Individuen zu überzeugen. Einzeltäter oder kleine Gruppen von Tätern zu Anschlägen zu motivieren. Seine territoriale Ausdehnung konnte dieser Extremismus nur im Machtvakuum der Syrien-Krise erreichen. Mit ihm lässt sich, entgegen der anderslautenden Selbstbezeichnung ihrer Anhänger, eben kein Staat machen. Mit ihm entsteht nur Chaos und Zerstörung.
Von diesem Phänomen können sich muslimische Verbände laut und deutlich distanzieren. Sie können diesen Extremismus – und damit sagen sie ausdrücklich etwas Wahres – als etwas zurückweisen, das sie als unislamisch beschreiben. Damit stellen sie trotz der islamischen Rhetorik und Verbrämung dieses Extremismus darauf ab, dass er keine Legitimation in der Gelehrtentradition des Islam findet. Sie können glaubhaft darauf hinweisen, dass dieser moderne Extremismus gegen eigene gewachsene islamische Überzeugungen verstößt. Sie beschreiben diesen Extremismus zutreffend als Missbrauch des Islam. Dass sie sich nicht zuständig fühlen, auch gegen diesen Missbrauch ihres Glaubens aufzustehen, ist ein Problem für sich. Aber es ist nicht das Problem, das im Zusammenhang mit den Taliban steht.
Die Taliban können nicht in die oben beschriebene Gruppe des modernen Extremismus eingeordnet werden. Auch wenn es den Opfern religiös legitimierter Gewalt gleichgültig sein kann, mit welcher Argumentation ihnen die Hand abgeschnitten wird, sie umgebracht oder unter einen Schleier gezwungen und als Kriegsbeute zum Besitz anderer degradiert werden. Für den Zusammenhang mit der Verantwortung, die die muslimischen Verbände betrifft, ist diese Differenzierung aber nicht trivial.
Aus Sicht der muslimischen Verbände missbrauchen die Taliban den Islam nicht. Sie gebrauchen ihn. Sie erfinden dabei keine neue, moderne Methodik der Anwendung religiöser Normen oder der Rechtsfindung durch theologische Exegese. Sie wenden jene Ergebnisse an, die sie den klassischen, gewachsenen Denk- und Rechtsschulen der historischen islamischen Theologie – oder besser Methodologie – entnehmen können. Sie bedienen sich dabei nicht willkürlich mal in dieser oder mal in jener Tradition. Sie wenden die Quellen ihrer religiösen Gelehrtentradition nicht beliebig an. Sie orientieren sich konsequent an den Ergebnissen, die die hanafitische Rechtsschule in Verbindung mit der maturidischen Denk- und Glaubensschule bereits vor Jahrhunderten vorformuliert hat.
Ihr Anspruch resultiert aus der jahrhundertealten Frage muslimischer Rechtsgelehrter, wie eine Gesellschaft, die den Grenzen einer kleinen, lokalen Stammesgemeinschaft entwachsen ist und nun ganze Städte, Länder und Kontinente umfasst, zu regieren sei. Da es keine neue göttliche Offenbarung geben wird, da es keinen neuen Propheten geben wird, der die Gemeinschaft bei der Anwendung der religiösen Ge- und Verbote anleitet, muss eine Antwort gefunden werden, wie neue Normen für eine Millionen umfassende Gemeinschaft gesetzt und angewandt werden können.
Die Taliban wenden jene Antworten an, die historisch formuliert wurden. Jede ihrer Praktiken, die nicht persönlicher Willkür entspringen, sondern religiös begründet werden, beruhen auf den Vorgaben und Ergebnissen der historisch gewachsenen islamischen Jurisprudenz, der Fiqh. Todesstrafen, Körperstrafen, das Verständnis von individueller Freiheit und die Grenzen dieses Verständnisses, der Status der Frauen, der Andersgläubigen, der Glaubensabweichler, schlichtweg jede Entscheidung in Bezug zu Abweichungen von den vorgegebenen religiösen Normen ist keine Neuerfindung der Taliban. Sie sind bereits in dem Fundus der klassischen islamischen Jurisprudenz enthalten und werden durch die Taliban lediglich angewandt.
Damit gehören die Taliban zu den „Leuten der Sunna und der Gemeinschaft“ – ahl as-sunna wal-gama’a. Sie haben ihren theologisch legitimen Platz in den Reihen der Sunniten, jener Muslime, die dem Brauch, der Handlungsweise, der Tradition des Propheten (s.a.s.) folgen. Für die muslimischen Verbände in Deutschland, insbesondere für die türkeistämmigen Verbände sind die Taliban damit im theologischen Sinne uneingeschränkt Glaubensbrüder.
Deshalb hören wir keine „Das hat nichts mit dem Islam zu tun!“-Distanzierungen von den hiesigen Verbänden. Was vor dem Hintergrund der Stille in Deutschland umso hörbarer wird, sind die Äußerungen in der Türkei. Der Staatspräsident Erdogan selbst viel mit der Formulierung auf, die Türkei stehe dem Glaubensverständnis der Taliban in nichts entgegen. Deshalb werde man sich bei den diplomatischen Beziehungen besser verstehen als andere Nationen.
In der regierungsnahen türkischen Presse finden jene Stimmen Gehör, die den Triumph der Taliban als Sieg der Muslime gegenüber Mächten der Ungläubigen mitfeiern. Man müsse jetzt abwarten und für die Taliban beten, dass sie weiter im rechten Glauben das Schicksal ihres Landes gestalten. Mitgefühl mit den flüchtenden Afghanen ist in diesen „frommen“ Kreisen selten zu finden. Dort herrscht eher die Schadenfreude darüber, dass nun die Kollaborateure des ungläubigen Westens ihre gerechte Strafe erhalten werden. Wer sich nicht gegen den legitimen, weil muslimischen, Herrschaftsanspruch der Taliban widersetzt hat, habe jetzt auch nichts Schlimmes zu befürchten.
Kritische Gedanken zum Schicksal von Frauen oder von Menschen, die nicht nach islamischen Normen leben wollen, fehlen nahezu vollständig. Diese Kategorien von Freiheit haben in dem Wertegerüst der Taliban keinen Platz. In der theologischen Tradition, der sie folgen, ist der religiöse Herrschaftsanspruch das absolut Gute, dem sich alle zu beugen haben. Schutz individueller Freiheit durch den Staat oder gar vor dem Staat ist keine Option. Denn überall dort, wo diese Freiheit im Widerspruch zur religiösen Norm steht, ist sie geeignet, über die individuelle Freiheitswirkung hinaus den Geltungsanspruch aller religiösen Normen für andere Muslime infrage zu stellen. Diese „Störung“ der religiösen Ordnung bedroht die weltliche Autorität, die sich religiös legitimiert. Die Taliban töten lieber, als dass sie diese Herausforderung hinnehmen: „Der Finger, den die Scharia abschneidet, schmerzt nicht!“ Und auch diese Konsequenz deckt sich zum Beispiel mit der klassischen islamischen Rechtsauslegung in Fällen der Apostasie.
Was sollen die Verbände nun tun? Sie können die traditionelle religiöse Jurisprudenz nicht abschaffen. Sie können sie nicht als entkräftet, überholt oder ungültig deklarieren. Hierzu haben sie keine religiöse Autorität, so sehr sie sich auch als Religionsgemeinschaften darstellen. Diese Fragen entziehen sich ihrer Kompetenz. Über diese Fragen entscheiden die ausländischen religiösen Autoritäten. Von diesen ist indes eine Distanzierung von den Taliban aus den dargelegten Gründen nicht zu erwarten.
Wenn sie also als „Religionsgemeinschaft“ die Dimension der „Gemeinschaft“ ihrer gesellschaftlichen Rolle nicht mit Inhalt füllen können, bleibt nur noch die Kategorie der „Religion“. Sie könnten zu dem, was sie selbstbestimmt nicht verändern können, zumindest eine wertende Haltung einnehmen. Sie könnten deklarieren, nach welcher Vorstellung von Religion sie in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft leben und glauben wollen. Sie könnten damit signalisieren, dass sie nicht nur in diesem Land leben, sondern auch verinnerlicht haben, was es bedeutet, Bürger dieser Gesellschaft zu sein, also ihren Glauben so zu verstehen und zu leben, dass er sich zum Wohl aller Bürger dieses Landes entfalten kann – ohne dass diese die gleichen Überzeugungen teilen müssen.
Wozu sonst haben diese Verbände den Anspruch, Muslime zu vertreten? Wozu sonst wollen sie wen oder was vertreten? Wozu sonst haben sie eigene „religiöse Beiräte“ oder „Gelehrtenräte“, wenn sie der hiesigen Gesellschaft oder auch nur ihren eigenen Mitgliedern nicht eigenständig deutlich machen können, was das Wesen ihres Glaubens ausmacht, wofür sie stehen und was in ihrem Glauben keinen Platz haben darf? Wozu gibt es sie, wenn nicht für diese historischen Momente?
Sie müssten dafür freilich einen Preis bezahlen: Sie müssten den Protest aus Teilen ihrer Gemeindebasis aushalten und in innermuslimischen Diskussionen überführen. Und sie müssten aller Voraussicht nach mit der Reaktion ihrer ausländischen Oberhäupter rechnen, die sie um Amt und Anstellung bringen wird.
Zu der innerverbandlichen Rhetorik gehört die Bereitschaft, „einen Preis zu bezahlen“ – „bedel ödemek“. Sie wird als Opferbereitschaft stilisiert, sich in einer von antimuslimischem Rassismus geprägten Gesellschaft für muslimische Belange einzusetzen. Was wäre das für ein Dienst, jungen Muslimen in Deutschland deutlich zu machen, dass angesichts des historischen religiösen Erbes eine klare und breite Grenze zwischen dem hiesigen Islamverständnis und dem der Taliban gezogen werden muss. Was wäre das für ein Einsatz für muslimische Belange, deutlich zu machen, dass die Diskussion über den historischen traditionellen Bestand religiöser Rechtsfindung und Rechtsauslegung längst überfällig ist und endlich die Kategorien von individueller Freiheit und demokratischer Gesellschaftsordnung mitberücksichtigen muss. Was wäre das für ein „Preis“, ein „bedel“, den man mit dem Verlust des eigenen verbandlichen Status zahlen könnte, um sich unüberhörbar für das pluralistische Zusammenleben hier in Deutschland einzusetzen. Es ist bis auf Weiteres nicht damit zu rechnen, dass dieser Mut irgendwo in den Verbänden zu finden sein wird.
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