Ein Kommentar von unserem Beiratsmitglied Engin Karahan zur Wahl des Thüringer FDP-Kandidaten Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD
„Das kann nicht sein, das können die nicht gemacht haben!“, so lautet die mildeste Reaktion in meinem Umfeld auf die Wahl des FDP-5%-Kandidaten Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen, und zwar mit der vollen Unterstützung der AFD- Fraktion hinter dem Nazi Höcke. „Es fängt wieder an!“, ist eine andere, schmerzlichere Feststellung.
Besonders in meinem muslimischen Umfeld dominiert die letztere Variante. Kann man es ihnen verdenken? Seien wir einmal ehrlich, wenn die AfD weiteres Gewicht in der Politik bekommt und die „gemäßigte Mitte“ sich immer mehr für den Rechtsradikalismus öffnet, so werden dies noch vor allen anderen die Minderheiten in diesem Land zu spüren bekommen: Muslime, Juden, Flüchtlinge und alles was dem „neu-erstarkten deutschen Wesen“ als Feind erscheint. An diesem Wesen, das steht außer Zweifel, werden wir Muslime und Juden, Migranten und andere sog. „Randgruppen“ nicht genesen. Mag der autochthone, biodeutsche „aufrichtige Demokrat“ wieder einmal die Option haben, sich den „Umständen“ anzupassen und ins Glied einzureihen. Wir haben diese nicht.
Nicht wenige junge Muslime stehen nun vor der Frage: Was tun? Die einfache, naheliegende Antwort wäre: Wir müssen weg, weg aus dem Land, das uns wieder mal so unglaublich enttäuscht hat; weg aus der Öffentlichkeit, in der wir uns immer weniger sicher fühlen; weg in die eigene Community, denn nur dort sind wir noch willkommen. Ich meine: Wie so viele einfache Antworten auf schwierige Fragen ist gerade diese hier die Falscheste.
Ja, wir müssen uns auch um unsere eigene Sicherheit sorgen, für unsere Familien, für unsere Freunde. Uns ist jedoch eine Verantwortung gegeben, die weit über diesen unseren engsten Kreis hinaus geht. „Nie wieder“ ist ein Versprechen, dass wir nicht nur uns selbst gegeben haben. „Nie wieder“ ist eine Versprechen an die Menschheit und die Menschlichkeit, alles in der eigenen Macht stehende auszuschöpfen, damit diese nationalsozialistischen Menschenfeinde nicht noch weiter an die Macht kommen, nicht noch mehr zur Mitte der Gesellschaft werden. Gerade als Muslime bedeutet der Anspruch, „Gutes zu fördern und dem Schlechten zu widerstehen“ in dieser Situation nicht wegzuschauen, sich nicht zurückzuziehen, nicht aufzugeben.
Ja, das Vertrauen in den „aufrechten Demokraten“ mag schwinden. Dann gilt es diese Verantwortung zu übernehmen, für Demokratie und Menschenrechte einzustehen, zu derjenigen, zu demjenigen zu werden, auf die man sich verlassen kann, wenn es um den Schutz von Pluralität und Vielfalt geht. Es ist an der Zeit, dass die Betroffenen, also Juden, Muslime, Flüchtlinge und Eingewanderte, LGBTQ und alle anderen, dass wir den Inhalt dieses “Nie wieder”s bestimmen.
Jetzt erst recht geht es darum, sich nicht um die impotenten Unterwanderungphobien der AfD und ihrer offenen und insgeheimen Unterstützer zu scheren.
Jetzt erst recht geht es als Muslime darum, sich von institutionalisierter Diskriminierung nicht abschrecken zu lassen und noch härter und stärker gegen die Mauern der Ausgrenzung anzulaufen.
Jetzt erst recht geht es darum, noch stärker in die Politik, in die Zivilgesellschaft, in die Öffentlichkeit zu drängen.
Es gibt noch genug aufrichtige Menschen in der Gesellschaft, mit denen der Schulterschluss möglich, die Allianz gewünscht ist. Nur warten wir nicht mehr darauf, dazu eingeladen zu werden.
Stellen wir der Thüringer FDP und CDU, der unverhohlen hinter ihnen grinsenden AFD für ihren Dammbruch noch mehr Sichtbarkeit, noch mehr kluge Wortmeldungen und einen – im Gegensatz zu diesen – aufrichtigen Einsatz für eine freiheitlich plurale und demokratische Gesellschaft entgegen. Nach Thüringen – als Muslim jetzt erst recht.
Niemand muss weg, nur weil in Thüringen den gewählten Volksvertreter das erforderliche Quantum an Rückgrat und politischem Selbstverständnis abhanden gekommen ist, um genau zu wissen, das nicht alles was legal ist, auch legitim sein muss. Alle, die mit einem wie auch immer gearteten Migrationshintergrund hier in Deutschland leben, wobei diese spezifisch dutsche uns ständig gestellte Wurzelitis-Frage flüssiger als flüssig, nämlich überflüssig, müssen einfach nur von ihrem Grundrecht auf Teilnahme an Wahlen Gebrauch machen und somit ihren Willen an der politischen Teilhabe dokumentieren. Stattdessen debattiert so manche Gruppe losgelöst von belegbaren Quellen, ob die Teilnahme an einer Wahl überhaupt hier zulässig sei. Aufwachen ist das Gebot der Stunde, denn wer auf dem Gleisbett liegt und schläft, obwohl von Rechts der Zug gerauscht kommt, der hat leider die Zeichen der Zeit nicht verstanden und da hilft dann auch kein historischer Rückgriff in die 30er Jahre dieser Republik, obwohl das Wissen um geschichtliche Zusammenhänge eine Notwendigkeit ist, wenn man sich aus der Gegenwart heraus mit der Zukunft unseres Landes beschäftigt. Thüringen wählt wohl bald wieder, aber nicht weil unsere Demokratie versagt hat und Hamburg wählt am 23.2., ergo ihr Lieben: Wacht auf und geht endlich wählen. Wenn nicht jetzt in 2020, wann dann?
[…] Beitrag erschien erstmals am 06. Februar 2020 in der Rubrik “Resonanzraum” der Alhambra Gesellschaft […]