Kommentar: Muslime sollten sich unbequemen Debatten stellen

Wir können nicht warten, bis Muslimfeindlichkeit nicht mehr existiert, um endlich nachdrücklich und überzeugend gegen islamistischen Extremismus vorzugehen. Es ist an der Zeit, offensiv Stellung zu beziehen

Von Murat Kayman

Ein österreichischer Junge versucht am 5. September einen Anschlag in München zu verüben. Er wird nach Schüssen auf eine Polizeiwache vor dem israelischen Generalkonsulat von den Polizeikräften getötet. Der Junge hat wohl absichtlich die Nähe zum israelischen Generalkonsulat gesucht. Der 5. September ist auch das Datum des Anschlags palästinensischer Terroristen auf das israelische Olympiateam 1972 in München. Vor diesem Hintergrund können wir davon ausgehen, dass der Junge wohl die Absicht hatte, Jüdinnen und Juden zu töten.

Er ist in Österreich als mutmaßlicher Islamist, der im Besitz von IS-Propagandamaterial war und sich dadurch wohl radikalisiert hat, polizeibekannt. Ich sage bewusst Junge. Der Täter war 18 Jahre alt. Fast noch ein Kind. Er ist nach allem, was derzeit bekannt ist, kein Täter, der mit einem gefestigten radikalen Glaubensverständnis nach Österreich eingereist ist. Kein Flüchtling aus Konfliktregionen mit islamistischen Gruppierungen. Seine bosnische Herkunft ändert nichts daran, dass er ein österreichischer Junge ist, der sich hier bei uns durch den Konsum islamistischer Propaganda radikalisiert hat. Und sein Feindbild war mutmaßlich das des Juden.

Die Reaktionen auf solche Taten ähneln sich. Es gibt muslimfeindliche Agitation des rechtspopulistischen Lagers, das alle Muslime als tickende Zeitbomben betrachtet. Gleichzeitig bekunden muslimische Interessenvertreter der großen Moscheeverbände ihr Entsetzen, verurteilen sie aufs Schärfste und achten aufs Peinlichste darauf, bloß nicht über die ideologischen Grundlagen solcher Taten zu reden. Denn dann kämen sie in die Bedrängnis, über Islamismus reden zu müssen. Aber den gibt es nicht im Vokabular der muslimischen Verbandvertreter. Denn da steckt der Wortstamm “Islam” drin. Und Islam hat nichts mit diesen Taten zu tun. Auch wenn sich die Täter auf ihre Religion berufen. Das ist die Linie der muslimischen Verbandsvertreter.

Erfindung “des Westens”

Und auch deshalb ist der Begriff “Islamismus” für sie ein Übel: Er ist nach ihrer Vorstellung eine Erfindung von Muslimfeinden, um den Islam und mit ihm alle Muslime in Misskredit zu bringen. Und in ihrer Vorstellung sind die Erfinder dieses muslimfeindlichen Schmähbegriffs nicht nur, aber ganz bestimmt auch jene, die in der “westlichen Welt” die Politik und die Medien “kontrollieren”. Aber in der Öffentlichkeit wollen sie das nicht sagen. Denn das könnte ja zur Folge haben, dass man annehmen könnte, der Täter von München habe vielleicht nicht bloß zufällig am Jahrestag des Olympiaattentats auf Polizisten vor dem israelischen Generalkonsulat geschossen.

Das würde dann ein Motiv nahelegen, das es nach Ansicht muslimischer Vertreter auch nicht wirklich gibt: Antisemitismus unter Muslimen. Ihrer Ansicht nach ist das wiederum eine Erfindung “des Westens”, mit welcher Muslime im Zuge des Kolonialismus vergiftet wurden und das jetzt nur als Vorwurf gegen Muslime ins Feld geführt wird, um vom eigenen europäischen Antisemitismus abzulenken.

Deshalb radikalisieren sich muslimische Täter auch nicht wegen erfundener Probleme wie “Islamismus” oder “Antisemitismus unter Muslimen”, sondern nur wegen der Diskriminierungserfahrungen, die sie in den muslimfeindlichen Gesellschaften des Westens machen. Deshalb dürfen wir – so eine wiederkehrende Forderung muslimischer Vertreter nach solchen Taten – nicht über erfundene Begriffe und deren vermeintliche Zusammenhänge diskutieren, sondern müssen viel intensiver über Muslimfeindlichkeit und den Generalverdacht gegen Muslime reden.

Für die muslimischen Vertreter ist das jetzt eine harte Nachricht, aber: Selbst wenn es ab morgen gar keinen Generalverdacht gegen Muslime mehr gäbe, wenn es nicht einen einzigen muslimfeindlichen Vorfall oder irgendeine antimuslimische Diskriminierung mehr gäbe, würde dennoch das Problem des islamistischen Extremismus unverändert fortbestehen.

Die muslimischen Vertreter müssen das Thema “islamistischer Extremismus” endlich offensiv angehen und dürfen ihn nicht ausschließlich in den Zusammenhang von Muslimfeindlichkeit und Diskriminierungserfahrungen setzen. Denn islamistische Gewalt wird durch ihre Propagandisten als “legitimer Widerstand” gegen eine Muslimen gegenüber feindlich gesinnte Welt beworben. Mit dieser “Rechtfertigung” legitimieren sie eine totalitäre, freiheitsfeindliche, menschenverachtende Ideologie.Als Muslime können wir nicht warten, bis Muslimfeindlichkeit nicht mehr existiert, um endlich nachdrücklich und überzeugend gegen islamistischen Extremismus vorzugehen. Unser friedliches Glaubensverständnis allein ist keine Extremismusprävention. Es ist eine Selbstverständlichkeit in einer freien Gesellschaft.

Keine Verbündeten

Solange muslimische Vertreter eine kritische Auseinandersetzung mit den religiösen Bezügen des Islamismus meiden, verstärkt sich der Eindruck, dass sie und mit ihnen viel zu viele Muslime keine Verbündeten im Kampf gegen extremistische Gewalt sind – sondern Fremde, die mit den Problemen dieser Gesellschaft nichts zu tun haben wollen.

Wer der fortschreitenden gesellschaftlichen Spaltung etwas entgegensetzen will, muss diese aus religiösen Überlegenheitsvorstellungen heraus vollzogene Selbstentfremdung muslimischer Organisationen hinterfragen. Die immer gleichen Pressemitteilungen und Mahnwachen im Kerzenschein ersetzen keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Problemen in der muslimischen Community. Denn während muslimische Vertreter noch damit beschäftigt sind, sich zu überlegen, wie sie am besten den Begriff “Islamismus” in ihrer öffentlichen Kommunikation vermeiden, guckt sich der nächste 18-jährige Junge ein islamistisches Propagandavideo an, das ihm erklärt, warum er als “guter Muslim” andere Menschen umbringen muss.

Ein Gastbeitrag für den Standard in Wien.

https://www.derstandard.at/story/3000000236138/muslime-sollten-sich-unbequemen-debatten-stellen

Categories: Aktuelles

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