Das Projekt MuslimDebate 2.0 will den innermuslimischen Diskurs über religiöse, soziale und politische Fragen weiter vorantreiben, gesamtgesellschaftliche Diskurse über Fragen und Herausforderungen einer Migrationsgesellschaft aufgreifen, aber auch neue Debatten in verschiedenen Kreisen anstoßen, indem es heikle Themen anspricht und sich nicht davor scheut, den Finger in die Wunde zu legen. Muslimische und (migrantische) Communitys sollen ihre Positionen zu zentralen gesellschaftlichen Themen in Deutschland reflektieren, mit nicht-muslimischen Akteur:innen der Zivilgesellschaft ins Gespräch kommen und sich in soziale und politische Prozesse einbringen.
Debatten um die Erinnerungskultur und die Aufarbeitung historischer Ereignisse sind für die Gesellschaft von immenser Bedeutung. In Deutschland drängen dabei unmittelbar die Themen Holocaust, Shoa, Nationalsozialismus, SED-Diktatur oder Wiedervereinigung ins Bewusstsein. Doch eine Erinnerungskultur ist sehr vielschichtig und komplex und dazu gehören auch Erfahrungen von Migrant:innen, die in ihren Herkunftskulturen Pogrome erlebt haben oder als Teil der deutschen Migrationsgesellschaft Opfer von rassistischer Gewalt geworden sind. Dass von Gewalterfahrungen geprägte Beziehungen zwischen verschiedenen migrantischen Communitys die Gestaltung einer gemeinsamen Erinnerungskultur erheblich belasten, zeigte die erste nicht-öffentliche Tagung des Projekts MuslimDebate 2.0 vom 2. bis 4. Juni 2023 im Gustav-Stresemann-Institut, Bonn. Den Ausgangspunkt stellte die Frage, wie Alevit:innen und Sunnit:innen in Deutschland im Kontext von 30 Jahren Sivas und 30 Jahren Solingen eine gemeinsame Erinnerungskultur entwickeln können.
Um das Thema auch in die Debatten der allgemeinen Öffentlichkeit hineinzutragen, wurde am 13. Juli 2023 eine Podiumsdiskussion in Berlin veranstaltet, die auf ein breiteres Publikum abzielte. Das Gespräch wurde aufgezeichnet und ist auf der Webseite sowie auf dem YouTube-Kanal des Vereins abrufbar. Unter dem Titel „Wie kann uns das Erinnern in einer vielfältigen Gesellschaft gelingen?“ diskutierten die folgenden Podiumsgäste: Cem Özdemir – Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft und Abgeordneter der Grünen, Prof. Dr. Özen Odağ – Professorin für Psychologie am Touro College Berlin und Dr. Hüseyin Çiçek – wissenschaftlicher Assistent an der Universität Wien im Bereich der Alevitisch-Theologischen Studien. Dabei wurde u.a. den Fragen nachgegangen, welche Rolle die unterschiedlichen Herkunftsbezüge beim Erinnern spielen, welche Konflikte und traumatischen Erfahrungen aus den Herkunftskontexten wir mitdenken müssen und welche unterschiedlichen Nationalismen, Rassismen, kulturellen sowie religiösen Bezüge wir dabei nicht ausklammern dürfen.
Mit dieser Handreichung sollen nun die zentralen Ergebnisse beider Veranstaltungen auch in Schriftform der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Beiträge in dieser Publikation erfolgen in der zeitlichen Abfolge des Programms. Den thematischen Einstieg ermöglichte bei der Wochenendtagung das Kamingespräch mit Berivan Aymaz – Vizepräsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen und Abgeordnete der Grünen, die ihre persönliche Wahrnehmung beider Ereignisse sowie des damaligen politischen und gesellschaftlichen Klimas den Teilnehmer:innen schilderte. In dem Zusammenhang wurden die Auswirkungen solcher extremen Gewalttaten auf die Gesellschaft und insbesondere auf die Nachfolgegenerationen der Betroffenen ausführlich diskutiert. Der Aufarbeitung im Rahmen einer offeneren und inklusiveren Erinnerungskultur wurde dabei große Bedeutung beigemessen.
Für eine nähere Betrachtung beider Ereignisse waren zwei Vorträge im Programm vorgesehen. Gökhan Güngör – Mitglied des Bunds der alevitischen Jugend sowie des Bunds der Alevitischen Studierenden – berichtete über die historischen Ereignisse, die im Kontext des antialevitischen Rassismus stehen bzw. gedeutet werden. Ein Überblick über den rassistischen Anschlag in Solingen konnte aufgrund des kurzfristigen Ausfalls des referierenden Gastes nicht erfolgen. Für die Publikation erklärte sich allerdings Birgül Demirtaş – Zeitzeugin des Solinger Brandanschlags und Sozialpädagogin – bereit, einen bereits veröffentlichten Artikel über ihre Perspektive auf die damaligen Geschehnisse zur Verfügung zu stellen. An dieser Stelle sei ihr für ihre Bereitschaft, den Beitrag erneut abzudrucken, nochmals gedankt!
Die Einblicke in die beiden Ereignisse und die gewonnenen Eindrücke ebneten den Weg dafür, in der anschließenden Gruppenarbeit die Grundlagen eines Zusammenschlusses von Alevit:innen und Sunnit:innen für die Entwicklung einer gemeinsamen Erinnerungskultur und für das Eintreten gemeinsamer Interessen herauszuarbeiten. Für die wissenschaftliche Diskussion und politisch-gesellschaftliche Einordnung der bereits gewonnenen Erkenntnisse wurden einige Aspekte der Tagung im öffentlichen Podiumsgespräch mit den drei oben genannten Gästen aufgegriffen. Die zentralen Aussagen des Austauschs wurden im letzten Abschnitt der Handreichung festgehalten. Der QR-Code am Ende des Beitrags führt direkt zur Aufzeichnung des Abends.
Mit dieser Publikation und den ihr vorhergegangenen Veranstaltungen verbindet sich die Hoffnung, einen ernsthaften Dialog zwischen beiden gesellschaftlichen Gruppen sowie eine Sensibilisierung in der deutschen Gesellschaft anzustoßen bzw. angestoßen zu haben.
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