Interview: “Gegen die Romantisierung dieses Terrors müssen wir Muslime uns wehren”

Interview mit unserem Gründungsmitglied und Projektleiter von “MuslimDebate 2.0 – Gesellschaft gemeinsam gestalten!”, Eren Güvercin.

Deutsche Islamverbände reagierten erst spät auf den Terror der Hamas gegen Israel. Der Zentralrat der Muslime habe die Täter nicht klar genug benannt, kritisiert Islamexperte Eren Güvercin. Er fordert Konsequenzen für die deutsche Religionspolitik.

WELT: Herr Güvercin, Israel wurde am Wochenende von palästinensischen Terroristen aus Gaza überfallen. Wie haben Sie das erlebt?

Eren Güvercin: Vom Raketenbeschuss aus Gaza und dem Durchbruch der Hamas-Terroristen habe ich Samstagfrüh im Internet gelesen. Ich war schockiert, voller Wut, fühlte mich gelähmt. Diese Situation wird alles im Nahen Osten ändern, auch hier in Deutschland. Das zeigt sich jetzt schon: Die Bilder von Jubel oder dem Verteilen von Süßigkeiten in Berlin-Neukölln sind erschreckend.

WELT: Die verteilte offenbar Samidoun, eine der linksextremistischen Terrorgruppe „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ nahestehende Organisation. Was zeigt das?

Güvercin: Tief sitzenden Hass auf Juden und Israel. Hier kommt er aus einem linken und muslimisch geprägten Milieu. Gegen diese Aktionen muss mit voller Härte vorgegangen werden, Samidoun muss sofort verboten werden – auch wenn das schon viel zu spät ist. Ähnliche Bilder gab es allerdings auch aus New York oder Istanbul. Es zeigt sich ein bekanntes Phänomen: Ganz gegensätzliche Milieus von Islamisten, Säkularen, Nationalisten und Linken zeigen sich solidarisch mit den Palästinensern, und das in Zeiten dieses unfassbaren Terrors. Das Problem ist leider größer als Neukölln. Von den deutschen Islamverbänden kam am Samstag allerdings zunächst nur ein lautes Schweigen.

WELT: Der Zentralrat der Muslime (ZMD) schreibt: „Damit nicht noch mehr Opfer in der Zivilbevölkerung beklagt werden, müssen alle Seiten jetzt die Kampfhandlungen sofort einstellen.“

Güvercin: Sie erzählen auch etwas von einer „Gewaltspirale“ und von vermeintlichen Angriffen auf die al-Aqsa-Moschee durch israelische Siedler. Was sie aber nicht schaffen: Die Hamas unmissverständlich und klar als Terrororganisation zu benennen und ihren Terror zu verurteilen. Kein Wort zu den Jubelfeiern in Berlin.

Der ZMD-Vorsitzende Aiman Mazyek ist ein gern gesehener Gast der Bundespolitik, er sitzt in der Deutschen Islamkonferenz unter Leitung des Bundesinnenministeriums. Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass man sich klar zur Hamas positioniert, ohne irgendwelche Relativierungen. Wenn das nicht möglich ist für Aiman Mazyek, dann muss sich unsere Religionspolitik gravierend ändern.

WELT:Ali Mete, Generalsekretär der dort ebenfalls vertretenen „Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs“ (IGMG), warnt davor, deutschen Muslimen eine Mitschuld an dem Terror zu geben. Wie bewerten Sie das?

Güvercin: Es wurde kritisiert, dass Mete und sein Verband sich nicht von der Hamas distanzieren können. Wie man hier den Dreh reinbekommt, dass ihnen irgendjemand eine Mitschuld am Terror gibt, weiß ich nicht. Es ist aber eine typische Strategie dieser Verbände: Wenn sie die eigentliche Frage nicht beantworten wollen, macht man sich zum Opfer. Sie wollen sich nicht distanzieren.

WELT: Wieso?

Güvercin: Das Problem ist fest in der Geschichte von Milli Görüs verankert. Am Todestag ihres Vordenkers Necmettin Erbakan wird in jeder Gemeinde an ihn gedacht. Zentrale Säulen seiner Ideologie sind ein tief sitzender Antisemitismus und Israelhass. Er lehnte nicht nur das Existenzrecht Israels ab, sondern formulierte Vernichtungsfantasien gegen das Land. Die Gemeinden setzen sich damit nicht auseinander, seine Bücher und Reden sind weiterhin präsent – sie prägen die Realität der IGMG-Gemeinden. Im deutschen Kontext werden sie diese Offenheit zum islamistischen Antisemitismus natürlich nie zugeben. Doch der muslimische Antisemitismus ist leider ein weitverbreitetes Problem.

WELT: Wie weit?

Güvercin: Als Muslim fällt es mir alles andere als leicht, das zu sagen, und manchmal fühlt man sich auch innerlich leer, aber leider sind antisemitische Ressentiments und Israelhass sehr verbreitet, und nicht wenige Muslime romantisieren die Hamas als Widerstandsbewegung. Gegen die Relativierung und Romantisierung dieses Terrors müssen wir Muslime uns wehren.

Ich kann als gläubiger Muslim nicht zu all dem schweigen und mich nur über Muslimfeindlichkeit empören. Das sind wir vor allem auch den Jüdinnen und Juden in Deutschland schuldig, die Schreckensnachrichten von ihren Verwandten lesen müssen, die Angst um ihre Familien in Israel haben oder die abscheulichen Bilder aus Neukölln ertragen müssen.

WELT: Der Koordinationsrat der Muslime sagte: Die Hamas startete einen Angriff, bei dem es auf „beiden Seiten“ zu Opfern kam. Wie bewerten Sie das?

Güvercin: Das relativiert den Terror. Es gibt hier einen klaren Angriff einer barbarischen Horde von Hamas-Terroristen auf einen souveränen Staat – und sie sprechen von „beiden Seiten“. Das ist beschämend. Jeder Staat würde auf so einen Angriff auf Zivilisten – darunter Alte, Frauen, Kinder – mit der notwendigen Konsequenz reagieren. Der Koordinationsrat benennt aber diese Täter nicht klar und deutlich, die Ideologie der Täter wird nicht beim Namen genannt. Und wenn man das nicht kann, stimmt etwas nicht. Das sollte die Bundespolitik und allen voran die Deutsche Islamkonferenz des Bundesinnenministeriums aufhorchen lassen.

WELT: Wie?

Güvercin: Die Naivität im Umgang mit den Islamverbänden muss endlich ein Ende haben. Die Stellungnahmen zum Angriff auf Israel haben ganz deutlich gezeigt, dass es ein lange ignoriertes Problem gibt. Das Innenministerium muss das auch in der Islamkonferenz auf die Tagesordnung setzen und die Verbände damit konfrontieren. Sie müssen sich klar von der Hamas distanzieren und gegen den Judenhass vorgehen und dies vor allem auch in die Gemeinden kommunizieren und in den Freitagspredigten thematisieren. Ansonsten gibt es wieder Alibi-Bekundungen hinter verschlossenen Türen, aber die gelebte Realität in den Gemeinden und eigenen Strukturen ist eine andere.

Außerdem muss es ein Ende haben, dass diese Verbände als zentrale Ansprechpartner der Politik dienen. Für mich persönlich ist klar, dass ich mit Verbandsvertretern kein Podium mehr teilen werde, die nicht in der Lage sind, Hamas als Terrororganisation zu nennen. Als deutscher Muslim kann ich dazu nicht schweigen. Wir brauchen auch eine Zeitenwende in der Religionspolitik.

WELT: Viele Muslime sehen sich durch die Verbände nicht repräsentiert, doch es heißt, man habe eben keine anderen Ansprechpartner. Sehen Sie hier eine Lücke?

Güvercin: Die muslimischen Verbände betreiben eine Mehrheit der Moscheegemeinden. Es gibt also vor allem ein Problem der organisierten muslimischen Gemeinschaft. Nur weil man vermeintlich keine anderen Ansprechpartner hat, kann es ja nicht sein, die Probleme des organisierten Islam in Deutschland unter den Teppich zu kehren. Da macht es sich die Politik zu einfach.

Neben dem organisierten Islam gibt es aber auch eine ganz große, vielfältige muslimische Community jenseits dieser Verbände. Ich denke, dass man genau da auch ansetzen und die muslimische Zivilgesellschaft jenseits der großen Verbände stärken muss. Aber diese muslimische Zivilgesellschaft muss auch hörbarer ihre Stimme erheben und aus einer muslimischen Haltung heraus die muslimischen Verbände und Organisation mit Kritik und Druck herausfordern.

Link zum Interview: https://www.welt.de/politik/deutschland/article247905370/Islamverbaende-in-der-Kritik-Gegen-Romantisierung-dieses-Terrors-muessen-wir-Muslime-uns-wehren.html

Categories: Aktuelles

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