Dr. Hakkı Arslan geht in dieser Replik auf den Beitrag „Warum wir die Welt in Halal und Haram sehen“ von Prof. Dr. Serdar Kurnaz ein.
In dem Beitrag „Warum wir die Welt in Halal und Haram sehen!“ versucht Serdar Kurnaz zu zeigen, dass es auf ein Schwarz-Weiß-Denken hinausläuft, wenn man die eigenen Handlungen mit den religiösen Begriffen halal und haram definieren will. Er führt diese für ihn per se problematische Betrachtungsweise auf einige (Fehl-)Entwicklungen des islamischen Rechts ab dem 9. Jahrhundert zurück, die die historische Grundlage für das gegenwärtige formalistische Verständnis von haram und halal bei vielen Muslimen darstelle.
Neu ist dieser Erklärungsversuch nicht. Ähnliches beklagt z. B. der afghanische Gelehrte und Jurist Mohammad Hashim Kamali (geb. 1944) in der Einführung zu seinem Buch „Sharia Law: An Introduction“; nämlich dass die Scharia heute oft nur legalistisch verstanden werde, während man ihren Geist, also ihre moralischen und spirituellen Aspekte, vernachlässige. Auch er führt die heutigen Probleme auf Entwicklungen zurück, die ihre Anfänge schon im 4. und 5. Jahrhundert der Hidschra gehabt haben sollen.
Damit befindet er sich in einer Tradition von muslimischen Denkern aus dem 20. und 21. Jahrhundert, die eine Niedergangsthese vertraten, wonach das islamische Recht nach einer frühen Phase der Blüte zunehmend stagnierte und vor allem nach der Etablierung der Rechtsschulen keinen Realitätsbezug mehr hatte und infolgedessen vollständig erstarrte. Jegliche negativen Aspekte, die wir heute beobachten, werden überwiegend auf diese diagnostizierte Fehlentwicklung und Erstarrung des traditionellen islamischen Rechts zurückgeführt. Diese Erzählung, die zunächst auf die frühe Orientalistik zurückgeht, wurde von zahlreichen muslimischen Gelehrten und (Reform-)Denkern übernommen und weitertradiert.
Die Tradition, hier verstanden als die islamische Rechtsschultradition, wird in dieser Narrative als eine reine Verdeckungsgeschichte betrachtet, in der die ursprüngliche Wahrheit Schritt für Schritt zugeschüttet worden sei. Es wird zwar hin und wieder von dynamischen Elementen der Tradition gesprochen, diese seien aber lediglich Randerscheinungen. Dominant seien „das engstirnige Denkmuster erlaubt-verboten“, wodurch „die Gelehrten sich selbst in Ketten legten“, in dem sie „weder die rein rationale Lösungsfindung akzeptierten noch diejenige, die auf menschlicher Erfahrung basierte. Sie forderten, dass man nur den Wortlaut des Korans und der Sunna des Propheten berücksichtigte.“
Alles negative Zuschreibungen, die ein stark einseitiges, defizitäres Bild der Tradition zeichnen. So wie dieser Ansatz nicht neu ist, ist auch die Kritik daran nicht neu. Zahlreiche Experten haben die Niedergangsthese bereits mehrfach grundlegend kritisiert; mit der Folge, dass diese Sicht in der Fachwelt mittlerweile kaum noch vertreten wird. (Siehe dazu: https://hakkiarslan.blog/2020/10/17/und-dann-gings-bergab-niedergangsparadigma-im-islamischen-recht/)
Dass dieser Ansatz jedoch wohl gerne immer wieder mal herangezogen wird, erfordert eine grundlegendere Auseinandersetzung mit der Thematik: Wir brauchen eine neue Sicht auf die eigene Tradition! Mit einer reinen Verdachtshermeneutik wird man der komplexen Rechtstradition nicht gerecht, genauso wenig mit einer unkritischen Überhöhung und Dogmatisierung der „Tradition“. Beide Probleme sieht man sehr häufig, weil der Traditionsbegriff nicht genau definiert und sehr undifferenziert verwendet wird. Traditionskritik gehört zu einer Tradition dazu, muss aber m.E. von einer grundlegenden Hermeneutik des Vertrauens ausgehen. Deshalb soll es in diesem Beitrag darum gehen, den Traditionsbegriff bzw. die traditionale Herangehensweise analytisch näher zu beschreiben, um jenseits von ideologisierenden Betrachtungen eine Basis für einen produktiven Umgang mit der Tradition zu schaffen. Zunächst soll aber gezeigt werden, warum es nicht per se problematisch ist, die Handlungen in halal und haram-Kategorien zu betrachten.
Halal-Haram. Die Frage nach dem richtigen Handeln
Die Frage nach dem richtigen/guten Handeln gehört zu den wichtigsten Kernfragen der Menschheitsgeschichte. Immanuel Kant hat diese Frage in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ zu den drei wichtigsten Fragen der Philosophie erklärt.
Ähnliches sagt der zeitgenössische Philosoph Robert Alexy in seiner knappen Definition der Philosophie:
„Philosophie ist allgemeine und systematische Reflexion darüber, was es gibt, was getan werden soll oder gut ist und wie Erkenntnis von beidem möglich ist.“ (Robert Alexy, Die Natur der Rechtsphilosophie, in: Winfried Brugger u.a. (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21.Jahrhundert, Frankfurt 2008, S. 11.)
Was gibt es, was muss ich tun bzw. was ist das Gute und wie ist Erkenntnis darüber möglich. Das sind universale, fundamentale Fragen der Menschheitsgeschichte, die die Menschen vor 2000 oder 1000 Jahren genauso gestellt haben wie heute.
Die Frage nach halal und haram ist, perspektivisch eingebettet in die Menschheitsgeschichte, nichts anderes als die Fortsetzung der Bemühungen um die Bestimmung des richtigen und guten Handelns. Die Beschäftigung mit der menschlichen Praxis und dem richtigen Handeln aus muslimischer Perspektive erschöpfte sich nicht nur in der formalen Festlegung von haram- und halal-Kategorien für bestimmte Handlungen, sondern wurde von Anfang an von einer kritischen Reflexion über diese Kategorien begleitet. Ist eine Handlung deshalb gut, weil Gott sie befohlen hat, oder hat Gott eine Handlung befohlen, weil sie gut ist? Diese und andere theologischen und moralphilosophischen Fragestellungen über die Erkenntnisfähigkeit des Menschen und der Quelle der Moral wurden in den dogmatischen (kalam) und rechtstheoretischen Werken (uṣūl al-fiqh) ausführlich kontrovers diskutiert. Diese komplexe intellektuelle Tradition geht von einer grundsätzlichen epistemischen Demut des Menschen aus, der für sich nicht beanspruchen kann, die absolute Wahrheit zu erkennen und von daher mehrere Auslegungen und Handlungsoptionen offenhält. Diese grundsätzliche Offenheit ermöglichte es neben der Offenbarung auch rationale oder kontextbezogene Erkenntniswege in die Normfindung zu integrieren. Die Orientierung an den Offenbarungstexten schließt also nicht automatisch die menschliche Erfahrung und die sozialen Kontexte aus dem Erkenntnisprozess aus. Nach haram und halal zu fragen und sich dabei an Rechtsmeinungen zu orientieren, muss nicht unbedingt als ein Schwarz-Weiß-Denken oder als eine Form der Unmündigkeit bewertet werden. Sich auf die Autorität und Kompetenz anderer zu berufen, bedeutet nicht automatisch, dass man irrational handelt, keine Verantwortung übernimmt und das selbstständige Denken vollkommen aufgibt. Das weitverbreitete Vorurteil, dass es sich bei einer Traditionsorientierung um eine blinde Übernahme unbegründeter Meinungen, um eine naive Autoritätsgläubigkeit der zum Selbstdenken Unmündigen handelt, ist inzwischen genauso wie die o.g. Niedergangsnarrative überholt.
Nach halal und haram zu fragen, ist also nicht grundsätzlich problematisch. Problematisch ist – und hierin übt der Autor berechtigte Kritik aus – ein reduktionistisches und formalistisches Verständnis juristischer Normen. Wenn also diese Orientierung an Rechtsnormen auf die bloße Umsetzung einer Vorschrift reduziert wird, ohne die diskursive Vielfalt dahinter zu berücksichtigen, dann entsteht ein Missstand. Dies zieht ein Verständnis von Islam als reine Gesetzesreligion nach sich, die die moralischen und spirituellen Aspekte in den Hintergrund rückt. Eine Kritik, die sich auch bei Kamali wiederfindet. Hinzu kommt, dass die Geschichtlichkeit und Kontextgebundenheit des islamischen Rechts ausgeblendet und die einzelnen Normen als übergeschichtliche Handlungsanweisungen betrachtet werden, die ohne Weiteres umgesetzt werden müssten. Diese reduktionistische Sicht auf die Handlungsnormen lässt sich aber nicht zwingend von der Rechtstradition ableiten, sondern geht vielmehr auf Gründe in den gegenwärtigen Entwicklungen zurück, die eine bestimmte Sicht auf die Tradition zur Folge hatten. Denn die Orientierung an der Tradition kann sowohl ein dynamisierendes Potenzial freisetzen oder aber auch stark konservative Züge annehmen. Es kommt darauf an, wie wir uns darauf beziehen. Das wiederum hängt meistens vom gegenwärtigen Kontext, den Rahmenbedingungen und der Situationsdiagnose ab. Ohne diese Differenzierung vorzunehmen, die gesamte fast 1200-jährige Geschichte zu problematisieren, ist deshalb nicht angemessen und wird der komplexen Tradition nicht gerecht. Wie können wir diese reduktionistische Sicht auf Gebote und Verbote überwinden, ohne dabei die Tradition pauschal als „Verdeckungsgeschichte“ unter Verdacht zu stellen und abzuwerten?
In diesem Sinne haben viele muslimische Denker dagegen aufgezeigt, dass die einseitige legalistische Lesart der Scharia kein traditionelles, sondern ein eher modernes Phänomen ist. In der Vormoderne habe es neben dem Recht einen sufisch-theologisch-philosophischen Komplex gegeben, der ebenso normativ gewesen sei wie das Recht. Theologie, Recht und Sufismus seien vereint gewesen, sodass die Orientierung an Geboten und Verboten rational und spirituell flankiert worden sei. Deshalb müsse dieser ganzheitliche Zugang heute wiederbelebt werden, um den reduktionistisch-legalistischen Diskurs zu verdrängen. Die traditionelle Rechtshermeneutik wird in dieser Lesart nicht als etwas zu Überwindendes gesehen, sondern als eine Inspirationsquelle, die den zeitgenössischen Anforderungen genügt, sofern man sie nicht starr-literalistisch, sondern dynamisch versteht. Laut dem ägyptisch-amerikanischen Denker Abou El Fadl bezeichnet fiqh als theologische Disziplin im traditionellen Sinne nicht die Ansammlung einzelner Rechtsurteile, sondern die Diskussionsprozesse der Gelehrten in den entsprechenden Kontexten. Die Normen in den klassischen fiqh-Büchern seien deshalb keine „Gesetze“, sondern normative Argumentationsgrundlagen. Das islamische Recht entsprach demnach nicht eins zu eins dem, was in den Rechtstexten stand, sondern es war das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses in der jeweils konkreten Realität. Die Rechtstexte bildeten meistens den Ausgangspunkt und den Rahmen dieses Aushandlungsprozesses. In der Moderne wurde dieser diskursive Aspekt und die Prozesshaftigkeit des fiqh jedoch von einem positivistischen Rechtsverständnis abgelöst, wonach die Normen in den klassischen Rechtstexten als gesetzesähnliche Regelungen betrachtet wurden, die nur umgesetzt oder in einem Nationalstaat als Recht angewandt werden müssen. Wie lässt sich diese verlorengegangene Diskursivität in der Moderne also wieder zurückgewinnen? Diese Frage lasse ich aufgrund der Komplexität hier stehen und versuche im Folgenden darzulegen, wie eine dynamische Lesart der Tradition (traditional) von einer starren Lesart (traditionalistisch) unterschieden werden kann.
Was ist die traditionale Logik? Unterschied zwischen traditionaler und traditionalistischer Herangehensweise
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine radikale Ablehnung der Tradition genauso unproduktiv ist, wie ihre idealisierte Überhöhung. Eine Tradition ist weder gänzlich eine Verdeckung der Wahrheit, noch ist sie mit der Wahrheit gleichzusetzen. Man kann sie folglich mit einer reinen Hermeneutik des Verdachts genauso wenig verstehen wie mit einer reinen Hermeneutik des Vertrauens. Beide Herangehensweisen sind problematisch und können der Komplexität einer gefestigten und historisch langanhaltenden Tradition wie die der islamischen Rechtstradition nicht gerecht werden. In meinem Ansatz, den man „kritische Vertrauenshermeneutik“ nennen könnte, versuche ich die Hermeneutik des Vertrauens und die Hermeneutik des Verdachts ins Gespräch zu bringen, da ich hierin die Möglichkeit einer gewinnbringenden Rehabilitierung der Tradition sehe. Es ist eine Hermeneutik, welche grundsätzlich auf die Tradition vertraut, aber dennoch das menschliche Fehlerpotenzial berücksichtigt und dementsprechend die Vertrauenshermeneutik mit einer Traditionskritik im Sinne der Wahrheitsfindung verbindet.
Was heißt das konkret? Wenn die Tradition von vorneherein als eine Verdeckung des Originalen, als eine bewusste Verfälschung oder als eine Abweichung von der Offenbarung betrachtet wird, dann schaut man gezielt auf die Tradition um vordergründig Fehler und Mängel aufzuzeigen. Das Selbstverständnis und die innere Logik einer der Tradition bleiben hierbei unbeachtet. Das Gleiche gilt auch für diejenigen, die die Tradition dermaßen idealisieren, so dass jegliche Hinterfragung der Inhalte als ein Verrat an der Religion betrachtet wird. Beiden Ansätzen ist es gemein, dass sie ein starres Verständnis von Tradition voraussetzen, die sie entweder überwinden oder verteidigen wollen. Bevor man aber die Tradition verurteilt und Defizitdiagnosen erstellt oder sie versucht energisch zu verteidigen, muss man einen Schritt zurückgehen und sie zunächst einmal „verstehen“. Das „Verstehen“ ist das Herzstück! Um verstehen zu können, muss man sich öffnen können. Also muss man bereit sein, sich auf die Tradition einzulassen und sich von ihr etwas sagen zu lassen. Diese prinzipielle Offenheit ist der Schlüssel zum Verstehen einer Tradition. Eine grundsätzliche Verdachtshaltung auf der einen und eine ideologische Überhöhung und Dogmatisierung der Tradition auf der anderen Seite lassen diesen Verstehensprozess im Keim ersticken. Für das Verstehen der Tradition ist deshalb eine grundsätzliche Offenheit notwendig, welche auf Vertrauen gründet. Das Vertrauen darauf, dass die Traditionsträger grundsätzlich nach bestem Wissen und Gewissen versucht haben, die ursprüngliche Botschaft auszulegen und auf heute zu übertragen. Dieses grundsätzliche Vertrauen schließt aber, wie schon oben erwähnt, eine kritische Sichtung der Traditionsgüter nicht aus, weil das menschliche Fehler- und Verdeckungspotenzial stets berücksichtigt werden muss. Was heißt es aber die Tradition zu „verstehen“ bzw. was ist das traditionale Verstehen?
Tradition als Muster
Starke Traditionen, die eine ganzheitliche Lebensorientierung anbieten, sind komplexe Traditionen, die sehr viele unterschiedliche Diskurse beinhalten und deshalb nicht einfach zu verstehen sind. Bei einer traditionalen Orientierung geht es nicht einfach darum, vergangene Ideen heute umzusetzen, sondern dass man gegenwärtige Herausforderungen über einen Bezug zur Vergangenheit neu aushandelt. Die Aushandlung geschieht in der Gegenwart aus einer traditionalen Logik heraus. Was ist die traditionale Logik an der Tradition? Genau hier kommt das Konzept des „Musters“ ins Spiel. (Das Konzept des Musters entstammt dem Werk „Traditionstheorie. Eine philosophische Grundlegung“ von Thomas Arne Winter. In diesem Werk versucht er eine philosophische Grundlegung der Tradition vorzulegen, welche sich sehr gut für die Beschreibung der islamischen Rechtsschultradition eignet. Vgl. Thomas Arne Winter, Traditionstheorie, Tübingen 2017.) Mit Muster ist die innere Logik einer Tradition gemeint, die nicht an eine spezifische historische Situation gebunden ist, sondern als Muster allgemein zu verstehen ist, die dann in einer konkreten Situation dynamisch wiederholt werden kann. Dabei muss ein Muster immer so strukturiert sein, dass es lebendig wiederholt und umgesetzt werden kann, ansonsten verliert es seinen Bezug zur Realität und hört auf zu bestehen. Das tradierte Muster darf dabei nicht als eine konkrete Handlungsanweisung verstanden werden, sondern als ein Muster allgemeiner Natur, das in spezifischen Kontexten unterschiedlich umgesetzt werden kann. Das erklärt auch, warum es innerhalb einer Tradition viele, sich scheinbar widersprechende Aussagen gibt. Denn all diese verschiedenen Aussagen können als Varianten eines Musters betrachtet werden, in dessen Rahmen unterschiedliche Ausformungen möglich sind.
Wichtig ist daher, das Muster zu verstehen und die verschiedenen Ausformungsmöglichkeiten und Grenzen zu kennen. Denn bei einer Tradition wird nicht nur der Bestand, also ein bestimmter Text überliefert, sondern auch die ihm zugrundeliegende Hermeneutik und der Anwendungskontext dieses Textes. Die Tradition als Muster ist mehr als eine Ansammlung von Handlungsanweisungen. Die konkreten, partikularen Handlungsanweisungen machen erst im Lichte dieses Musters einen Sinn und können erst dann angemessen umgesetzt werden.
Die Tradition bzw. das traditionale Muster setzt sich also aus drei Bestandteilen zusammen:
- Textmuster, also die konkrete Handlungsnorm (hukm) in den Rechtstexten (wobei auch diese schon in Plural vorhanden ist);
- Das hermeneutische Bezugsmuster, also die innere Logik der Auslegung dieser Norm;
- Das Anwendungsmuster, also der konkrete Anwendungskontext einer Norm.
Mit anderen Worten: Nicht nur der Text wird in der Tradition überliefert, sondern auch die Auslegung (-s-) und Bedeutung (-smöglichkeiten) des Textes sowie die Anwendung (-smöglichkeiten) des Textes. In diesem Korrelationsgefüge zwischen Text, Hermeneutik und Anwendung ist das Tradierte zu verorten. Konkret heißt es für Rechtstexte, dass nicht nur die juristischen Normen überliefert werden, sondern deren Hermeneutik, also wie diese Norm ausgelegt werden soll und die konkreten Anwendungsoptionen, also wann, wie und unter welchen Bedingungen diese Norm, wenn überhaupt umgesetzt werden soll. Erst wenn diese drei Ebenen berücksichtigt werden, kann man von einer traditionalen Herangehensweise sprechen, welche sich von einem starren Traditionalismus unterscheidet.
Wenn man aber nur den Text berücksichtigt – der dann als konkrete Handlungsanweisung verstanden wird und nicht als ein Muster -, die Hermeneutik und den Anwendungskontext zugleich vernachlässigt, führt dies zu einem formalistischen Verständnis. In einem solchen Verständnis verliert die Tradition ihren Bezug zur Realität und verkommt zu einer bloßen Konvention. Das formalistische Verständnis von halal und haram, was im letzten Beitrag kritisiert wurde, resultiert aus einem solchen Traditionsverständnis. Sowohl die traditionsinterne Hermeneutik als auch die Anwendungsprinzipien müssen unbedingt berücksichtigt werden, damit die verschiedenen Handlungsvarianten des traditionalen Musters offengelegt und der Realitätsbezug gewährleistet werden können. Erst bei der Berücksichtigung aller drei Bestandteile einer Tradition lässt sich eine Tradition als eine Gegenwartsorientierung fruchtbar machen (Traditional). Vernachlässigt man eine oder zwei Bestandteile kommt es zu einer Verstellung der Tradition (Traditionalismus). Und sie bleibt ein realitätsfernes Selbstgespräch zwischen Gleichgesinnten, aber hat wenig zu bieten für die Gegenwart.
Die Traditionsinhalte werden also stets nach ihren kontextuellen Bezügen und Anwendungsmuster befragt, um die innere Logik, die dahintersteckt, zu verstehen. Diese innere Logik zu verstehen und in verschiedenen Kontexten anwenden zu können, zeichnet die Traditionsorientierung aus. Aus dieser Perspektive betrachtet, wären z.B. die Meinungen von Abū Ḥanīfa, Abū Yūsuf und aš-Šaibānī innerhalb der hanafitischen Rechtsschule nicht als übergeschichtliche Handlungsanweisungen zu verstehen, sondern als kontextgebundene Beispiele des allgemeinen Musters. In anderen Kontexten können dementsprechend andere Varianten des Musters umgesetzt werden. Dementsprechend bedeutet Tradition nicht, dass man sich auf vergangene Meinungen beruft und sie eins zu eins umsetzt, sondern dass man die Muster vergangener Handlungsnormen versteht und diese im Horizont unserer gegenwärtigen Herausforderungen als normative Orientierung zugrunde nimmt. Diese normative Orientierung, verstanden als Muster, bietet für den gegenwärtigen Kontext verschiedene Anwendungsoptionen, die nicht beliebig sind, sondern aus der inneren Sachlogik der Tradition hervorgehen und damit auch die Auslegungsgrenzen bilden. Die Aushandlung dieser verschiedenen Handlungsoptionen, die sich aus der inneren Logik des Traditionsmusters ergeben, ist die Aufgabe des zeitgenössischen Theologen, der sich als Teil der Tradition betrachtet und mit diesem Hintergrundwissen eine gegenwärtige Antwort auf eine gegenwärtige Frage liefert vor dem Horizont vergangener Erfahrungen. Deshalb ist das Aushandeln der Tradition immer ein komplexer Prozess, welcher die Protagonisten immer wieder herausfordert, über die Möglichkeiten und Grenzen des Sagbaren nachzudenken.
Fazit: Ein dynamisches Traditionsverständnis, was die drei Bestandteile der Tradition, nämlich das Textmuster, das hermeneutische Bezugsmuster und das Anwendungsmuster, berücksichtigt und miteinander in Beziehung setzt, kann eine wichtige Ressource für den heutigen Diskurs werden. Ein Traditionsverständnis, was sich lediglich auf den Text konzentriert, die anderen zwei Bezugsmuster ignoriert und die bloße äußerliche Ausführung der Handlungsanweisungen als Tradition betrachtet, wird ein realitätsfernes Gebilde bleiben, welches kaum eine Bedeutung für die Gegenwart haben wird. Die erste Herangehensweise kann man in Abgrenzung zur zweiten „traditionale Herangehensweise“ bezeichnen und die zweite „traditionalistische Herangehensweise“
[…] 18. März 2022 reagierte Hakkı Arslan in seinem Beitrag „Warum Halal und Haram doch nicht so schlimm sind – Die Rehabilitierung der ‚Tradition‘ jens… auf meine Ausführungen zu „Warum wir die Welt in Halal und Haram sehen“ vom 07. Januar 2021. […]
[…] Warum Halal und Haram doch nicht so schlimm sind – Die Rehabilitierung der „Tradition“ jenseit… […]