Bericht aus zwei Jahren Arbeit der Alhambra Gesellschaft in der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ (4/2019)
Vor knapp zwei Jahren fanden sich einige muslimische Multiplikator*innen in Köln zusammen, um die Alhambra Gesellschaft zu gründen. Der Verein setzt neue Akzente in der Islamdebatte und hebt dabei besonders die Perspektive junger Muslime hervor, die sich als Europäer*innen verstehen.
Dr. Nimet Seker
Den ewigen Teufelskreis aus Selbstmitleid, Frustration und Kritik am herrschenden Islamdiskurs aufbrechen und kritische Akzente aus muslimischer Perspektive setzen – dies war die primäre Motivation für die Gründung der Alhambra Gesellschaft. Die Islamdebatten im deutschsprachigen Raum, die von der Reproduktion von Stereotypen und Klischees lebt, fördert nicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Diagnose über diese Fehlentwicklung der letzten Jahrzehnte stellt für muslimische Multiplikator*innen keine neue Erkenntnis dar. Die Dringlichkeit, in diesem Diskurs und in der praktischen Arbeit mit Muslimen positive Impulse zu setzen, nimmt mit der Loslösung des Islams von einer migrantischen Identität sogar zu. Die Alhambra Gesellschaft möchte hierbei adäquate Lösungsansätze bieten und vor allem der Jugend sinnvolle Angebote machen. Im Zentrum steht die Idee, Muslimen Debatten- und Denkräume zu bieten, in denen sie in deutscher Sprache sprachfähig werden. Bisher konnte der Verein in den kurzen zwei Jahren seit der Gründung wichtige Impulse für die Arbeit im politischen und medialen Diskurs und im innermuslimischen sozialen Raum setzen. Weitere Arbeitsbereiche sind die islamische Kunst- und Kulturlandschaft, die als ein Teil der deutschen Kulturproduktion verstanden wird, und Reflexionen über muslimische Glaubens- und Lebenspraxis, die vor allem im Format Freitagsworte.de umgesetzt werden.
Ein Teil Europas
Die Alhambra Gesellschaft versteht die Existenz der Muslime in Europa als eine historisch tiefe Verwurzelung des Anspruchs auf gesellschaftliche Teilhabe unterschiedlicher Glaubensangehöriger zum Wohle ihrer jeweiligen europäischen Heimat. Die Alhambra, als frühes architektonisches Merkmal europäisch-muslimischen Schaffens, wird dabei nicht als Symbol einer harmonischen und aus schließlich konfliktfreien gemeinsamen Geschichte missverstanden. Eine andalusische Convivencia wird nicht als interreligiöse Wohlfühlzone romantisiert. Vielmehr wird die europäische Geschichte zum Anlass genommen, sich unermüdlich und beharrlich für eine freiheitliche und pluralistische Gesellschaft einzusetzen. Die Alhambra Gesellschaft geht davon aus, dass ein gemeinsamer Einsatz für eine gemeinsame europäische Zukunft nur dann möglich ist, wenn sich Muslime mit ihrer religiösen Identität uneingeschränkt zum Wohle der Allgemeinheit in die gesellschaftlichen Diskurse einbringen können.
Freitagsworte: Der Islam in deutscher Sprache
Wie fühlt sich der gelebte Islam für europäisch denkende und fühlende Muslime an? In den wöchentlich erscheinenden Freitagsworten melden sich Mitglieder der Alhambra Gesellschaft und Gastautor*innen mit einem aktuellen Thema zur gelebten Glaubenspraxis zu Wort. Durch die Vermittlung in deutscher Sprache wird vor allem ein Bezug zur Lebensrealität im Hier und Heute hergestellt. Damit werden Menschen – Muslime wie Nichtmuslime – erreicht, die sich in der Vermittlung ihres Glaubens durch die vorherrschende Übersetzungskultur aus dem Arabischen und Türkischen nicht angesprochen fühlen. Die Autor*innen versetzen sich dabei ausdrücklich in die Rolle eines Predigers und einer Predigerin der Ansprache beim wöchentlichen Freitagsgebet. Bewusst verzichtet die Redaktion dabei aber auf eine rituelle Rahmung der Texte. Die rituelle und spirituelle Begleitung der freitäglichen Gemeindeansprache ist Sache der Religionsgemeinschaften. Die Freitagsworte wollen nur einen Eindruck davon vermitteln, wie diese Ansprache inhaltlich direkter und sprachlich harmonischer gelingen kann. Die hohen Klickzahlen auf der Website Freitagsworte.de und das individuelle Feedback bestätigen die Redaktion in ihrem Vorhaben. Mittlerweile hat die Website eine Aufrufzahl von 600.000 erreicht. Regelmäßig werden Texte aus den Freitagsworten im islamischen Religionsunterricht und in Seminaren gelesen. Bei der allerersten Abiturprüfung im Islamischen Religionsunterricht in Deutschland überhaupt hatten die Schüler*innen zwei Texte aus den Freitagsworten in der Prüfung zur Auswahl. Die breite Rezeption der Freitagsworte in muslimischen Jugendgruppen und die weite Verteilung der Beiträge auf Social Media-Kanälen bestätigt die Diagnose der Gründungsmitglieder, dass unter der Leserschaft ein starkes Bedürfnis nach der Reflexion von Glaubensinhalten in deutscher Sprache besteht. Unter dieser Leserschaft sind auch Mitglieder aus christlichen und jüdischen Gemeinschaften, so dass die Redaktion diese Gruppe auch unter die Gastutor*innen aufgenommen hat.
Die Stereotype der politischen TV-Talkshows durchbrechen
Mit dem Format Das Muslimische Quartett wird die bekannte Dramaturgie und die Stereotype etablierter Talkrunden aufgebrochen. Diskutanten aus der Alhambra Gesellschaft debattieren dabei mit geladenen Gästen zu einem aktuellen kontroversen Thema. Die öffentliche Podiumsdiskussion wird aufgezeichnet und auf YouTube zugänglich gemacht. Die Plattform bietet dabei kritische Perspektiven aus einer Diversität von muslimischen Stimmen aus Deutschland. Hier diskutieren nicht „Fremde“ mit „Einheimischen“, sondern deutsche Muslime untereinander und mit Deutschen anderen oder gar keines Glaubens. Das letzte Muslimische Quartett zum Thema „Macht und Geschlecht. Eine religiöse Perspektive“ mit dem islamischen Theologen Dr. Ali Ghandour, dem Dominikanerpater Richard Nennstiel und der transidenten Muslima Leyla Jagiella fand viel Zuspruch; Zitat aus dem Publikum: „Ich bin heute eigentlich hergekommen, um richtig Dampf gegen die Muslime abzulassen. Ich habe heute Abend aber so viel Neues und Unerwartetes gehört, dass ich das alles erst einmal verarbeiten muss“. Für das Muslimische Quartett konnten wir bereits renommierte Kooperationspartner wie die Humboldt-Universität Berlin, den Dominikanerkonvent in Hamburg und die Friedrich Ebert-Stiftung gewinnen.
Konzerte, Lesungen und Filmabende
In Veranstaltungen zu Literatur, Musik und Film bringt die Alhambra Gesellschaft Künstler*innen und Kulturschaffende aus verschiedenen Welten zusammen und erkundet kulturelle und künstlerische Grenzen. Grenzen zwischen religiösen und musikalischen Traditionen, zwischen Kunst und Identitätspolitik. Was ist das Eigene? Was ist das Fremde? Wer zieht die Grenzen? Im ersten Konzert „Symphonie pour David“ in der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schöneberg folgten Musiker*innen den Spuren der Genfer Psalter von Europa bis in das Osmanische Reich. Die Genfer Psalter wurden im 16. Jahrhundert für die gottesdienstliche Praxis reformierter Gottesdienste komponiert. Aufgenommen wurden diese durch den späteren Komponisten Ali Ufuki, der ursprünglich aus Polen kam und am Hof des Sultans von Konstantinopel als Dolmetscher und Komponist tätig war. Er übersetzte Teile des Genfer Psalters ins Türkische und schuf musikalische Fassungen, welche das östliche Tonsystem mit Halb- und Vierteltönen mit der europäischen Choraltradition verband. Die nächste Veranstaltung zu den musikalischen Grenzgängen wird Ende September wieder in Berlin stattfinden. Bei der Filmgesprächsreihe „Gespräch im Kino“ bieten wir eine Plattform für einen Austausch über Filme. Den Auftakt machten wir im Kino Central Berlin mit dem kolumbianischen Film „Birds of Passage“. Dabei wurden beispielsweise folgende Fragen diskutiert: Wie verhalten sich Tradition und Moderne, das Alte und das Neue zueinander? Woher kommen das Gute und das Böse im Menschen? Ist das Leben ausweglos oder besteht Grund zur Hoffnung? Und vor allem: wie drücken sich diese Themen in der Bildsprache des Films aus?
Neuer Vorstand: Eine neue, jüngere Generation
Jenseits der eigentlichen Vereinsarbeit bringen sich alle Mitglieder auch in anderen Foren und Plattformen zur Islamdebatte ein. So nehmen Mitglieder des Vorstands und des Beirats an verschiedenen Formaten der Deutschen Islamkonferenz teil, sitzen regelmäßig auf Podien und leisten auch einen Beitrag zur medialen Debatte. Der große Bedarf an muslimischen Ansprechpartner*innen, die sich qualifiziert zu Wort melden, spiegelt sich auch in der Arbeitsintensität des Vereins wider. Die Alhambra Gesellschaft versteht sich dabei jedoch nicht als ein repräsentierendes Organ einer gemeinsamen muslimischen Stimme, sondern als eine Plattform für diverse Stimmen und Tonationen, für Diskussion, Austausch im Sinne der Förderung der Sprachfähigkeit von Muslim*innen in Deutschland und Europa. In diesem Zusammenhang legen wir großen Wert auf eine selbstbestimmte Artikulationsfähigkeit muslimischer Frauen, die sowohl muslimisch als auch nicht-muslimisch oftmals nicht als eigenständige Stimmen zur Sprache kommen. Vielmehr dienen muslimische Frauen in den Diskursen als eine Projektionsfläche für unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse. Um dieses Zerrbild zu dekonstruieren, bindet der Verein junge Frauen aktiv in seine Arbeit ein. Und somit wurde auch im Juli 2019 ein neuer Vorstand gewählt, der aus neuen Mitgliedern besteht. Mit dem durchschnittlich zehn Jahre jüngeren Vorstand sollen ein frischer Wind, neue Ideen und Formate sowie weitere, alternative Perspektiven in die Vereinsarbeit einfließen. Gemäß des Leitbilds der Geschlechtergerechtigkeit finden sich im neuen Vorstand auch drei Frauen.
Zum PDF des Beitrags: https://www.echter.de/images/Lebendige_Seelsorge/LS-2019-04/LS_04_2019_Seker_Eine_positive_muslimische_Identit%C3%A4t_stiften.pdf