„Unbehagen in der Mehrheitsgesellschaft kann ein Verbot nicht rechtfertigen“

Politische Debatten werden sehr oft mit überspitzt formulierten Forderungen geführt. Das führt nicht nur zu undifferenzierten Aussagen, sondern vergiftet auch das gesellschaftliche Klima und erschwert eine sachliche Debatte. Aufgrund der wieder aufgeflammten Debatte um das Kopftuch und Forderungen nach einem Verbot an Schulen haben wir mit dem Religionsverfassungsrechtler und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland Prof. Dr. Hans Michael Heinig für unsere Rubrik Resonanzraum gesprochen.

In Österreich wurde beschlossen Kopftücher an Grundschulen zu verbieten. Wie schaut es bei uns in Deutschland aus? Ist ein ähnliches Verbot rechtlich bei uns möglich?

Prof. Dr. Hans Michael Heinig: Soweit religiös begründete Bekleidungspraktiken in der Schule verboten werden sollen, stellt das einen Eingriff in die Religionsfreiheit bzw. das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung dar. Ein solcher Eingriff kann nur durch im konkreten Fall höherrangige Verfassungsgüter gerechtfertigt werden. Im Falle der Burka ist der staatliche Erziehungsauftrag nach Art. 7 GG einschlägig, da bei einer Gesichtsverschleierung schuldidaktisch erforderliche Kommunikation nicht stattfinden kann. Für das Kopftuch lassen sich vergleichbare verfassungsrechtliche Gründe nicht finden. Die Kopftuch tragende Schülerin ist ohne Einschränkungen kommunikationsfähig. Man kann eine solcher Bekleidungspraxis bei jungen Schülerinnen gesellschaftspolitisch befragen: Welches Geschlechterbild, welches Integrationsverständnis, welche Form von Religionskultur wird hier sichtbar? Aber Unbehagen in der Mehrheitsgesellschaft an einer religiös begründeten Praxis kann ein Verbot dieser Praxis nicht rechtfertigen. Auch integrations- und emanzipationspolitische Erwägungen tragen kein pauschales Kopftuchverbot in der Schule. Es ist ein legitimes Ziel staatlicher Schulpolitik, ein selbstbewusstes, reflektiertes Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zur eigenen religiösen Tradition anzustreben. Das erreicht man sinnvoller Weise durch Bildungsprozesse, durch Aufklärung, nicht durch Verbote. Es ist aber nicht Aufgabe des Staates, ein aus seiner Sicht „richtiges“ Verständnis islamischer Kleidungsgebote durchzusetzen.

In Fragen der Religion, stehen sich da Elternrecht und staatlicher Bildungsauftrag überhaupt gegenüber? Wer entscheidet über die religiöse Erziehung der Kinder?

Heinig: Das Erziehungsrecht steht den Erziehungsberechtigten zu, in der Regel den Eltern. Der Staat greift mit Befehl und Zwang nur im Rahmen seines Wächteramtes ein – bei einer Gefährdung des Kindeswohls. Im Rahmen der Schule kommt dem Staat zwar ein eigener Bildungsauftrag und in diesem Rahmen auch ein Erziehungsauftrag zu. Der ergänzt das Elternrecht, soll es aber nicht konterkarieren. Zu einem Konflikt kommt es nur, wenn das Elternrecht die Wahrnehmung des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags in Frage stellt. Das ist beim Kopftuch von Schülerinnen erkennbar nicht der Fall. Ziel der Schule ist Mündigkeit durch Bildung. Für das Kopftuch heißt das: Grundrechtsträger sollen kompetent selbst über ihr Verständnis religiöser Traditionen entscheiden können. Bei pauschalen Kopftuchverboten in der Schule droht dieses Bildungsziel hinter einer paternalistischen Intervention des Staates zu verschwinden.

Welche gesetzlichen Regelungen haben wir hier in Deutschland zur religiösen Mündigkeit von jungen Menschen? Sehen Sie in diesem Bereich überhaupt noch eine Regelungslücke, die jetzt auf die Schnelle noch geschlossen werden müsste?

Heinig: In Religionsfragen wird man in Deutschland ab dem 14. Lebensjahr umfänglich religionsmündig. Das Elternrecht tritt dann hinter der religiösen Selbstbestimmung der Minderjährigen zurück. Diese Regelung hat sich in der Praxis bewährt. Weltfremd und religionsfeindlich ist die Vorstellung, Minderjährigen von jeglicher religiösen Tradition fernzuhalten, damit sie später unbefangen über ihre religiöse Identität bestimmen können. Religion muss wie eine Sprache oder der Zugang zu Musik erlernt, eingeübt, inkulturiert werden. Es gehört zum Kern des Elternrechts zu entscheiden, ob man diese Kulturtechniken den eigenen Kindern weitergeben will oder sie gerade davon fernhalten will.

Tangieren Themen wie Kopftuch oder das Fasten in der Schule nur Muslime, oder diskutieren wir hier grundsätzliche Einschränkungen der freiheitlichen Verfassungsordnung? Und müssten sich hier nicht auch Akteure jenseits der betroffenen Gruppe zu Wort melden?

Heinig: Zur freiheitlichen Gesellschaft gehört das Recht, die Religionspraxis anderer zu kritisieren. Grundlage für eine solche Kritik muss aber die Anerkennung gleicher Freiheit sein. Ich muss anderen ihre Religionsfreiheit zugestehen und darf den Gebrauch dieser Freiheit zugleich kritisieren. Im Alltag scheint dieses anspruchsvolle Konzept rechtlicher Freiheit viele zu überfordern. Islamvertreter brandmarken Kritik zuweilen vorschnell als rassistisch, sogenannte Islamkritiker haben oft ein eigenwillig verkürztes Verständnis von Religionsfreiheit. Am Ende droht unsere Verfassungsordnung deformiert zu werden. Wir brauchen keine Neuauflage des Kulturkampfs wie weiland in Preußen, als man im Namen des Fortschritts die katholische Kirche bekämpfte und die Idee der Emanzipation durch Repressionen gerade verriet. Zugleich sind kritische Debatten über Religionskulturen und Religionspraktiken wichtig – das betrifft alle Religionen und Weltanschauungen gleichermaßen. Wir müssen in unserer Gesellschaft eine Sprache und einen Umgang erlernen, drei Dinge zusammenkommen: Toleranz als persönliche Haltung, Gleichberechtigung im Recht, öffentliche Religionskritik als Teil des Meinungspluralismus, der eine freiheitliche Gesellschaft auszeichnet.

Politiker überbieten sich aktuell gegenseitig in Ihren Wortmeldungen. Die Integrationsbeauftragte Widmann-Mauz sagte: „Dass kleine Mädchen Kopftuch tragen, ist absurd“. Inwiefern kennen wir heute eigentlich unser Grundgesetz noch, schließlich feiern wir das 70jährige Jubiläum?

Heinig: Was mich schon wundert: Vor 70 Jahren war gerade Unionspolitikern wichtig, Elternrechte in der Verfassung zu verankern. Totalitäre Regime beanspruchen, in allen Lebenslagen und Details besser als die Eltern zu wissen, was gut für die Kinder ist. Freiheitliche Demokratien gewähren gehaltvolle Elternrechte auch deshalb, weil diese eine antitotalitäre Pointe kennen. In einer pluralen Gesellschaft wird es immer Erziehungsvorstellungen von Eltern geben, die eine Mehrheit befremdet. Die einen wollen religiöse Orthopraxie an die nächste Generation weitergeben, die anderen träumen von einer Karriere ihrer Kinder als Profifußballer, dritte ernähren ihre Kinder vegan. Solange das Kindeswohl nicht gefährdet wird, sollte der Staat in solchen Fragen nicht mit Befehl und Zwang intervenieren. Dieses Leitbild stand den Verantwortlichen vor 70 Jahren deutlich vor Augen. Der Geburtstag des Grundgesetzes ist ein guter Anlass, an diese Motive für Elternrechte zu erinnern.

Categories: Aktuelles, Resonanzraum

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