Die Verletzlichkeit der muslimischen Frau und die symbolische Geschlechterordnung

Impulsvortrag unserer stellv. Vorsitzenden Dr. Nimet Seker zur Eröffung des Muslimischen Quartetts in Hamburg zum Thema “Macht und Geschlecht. Eine religiöse Perspektive”

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Vor einiger Zeit fragte mich eine Journalistin in einer Runde mit anderen aktiven Muslimas, warum wir muslimischen Frauen denn in der Öffentlichkeit gar nicht sichtbar seien. Meine spontane Antwort war: Die Anzahl der aktiven Muslimas ist viel zu gering im Verhältnis zu den Anfragen aus der Öffentlichkeit. Nach längerem Nachdenken komme ich aber zu einem ganz anderen Schluss, und darüber möchte ich hier und heute sprechen. Die Frage, die wir heute auf dem Muslimischen Quartett aufwerfen, betrifft das Verhältnis von Macht und Geschlecht. Das Geschlechterverhältnis ist immer ein Machtverhältnis und alle Gesellschaften haben sich dieses Prinzip einverleibt, da sie nur durch die Ausbeutung von Frauen funktionieren. Dieses Prinzip möchte ich die „symbolische Geschlechterordnung“ nennen. Wichtig ist mir noch, zu Anfang zu betonen, dass meine folgenden Ausführungen sich aus der Perspektive und den Erfahrungen einer muslimischen Frau in Europa speisen. Ich beanspruche damit nicht, repräsentativ für alle Muslimas oder alle Frauen zu sprechen.

[1. Die Verletzlichkeit von muslimischen Frauen]

Eigentlich wollte ich auf die Frage der Journalistin folgendes antworten: Es ist unheimlich anstrengend und kräftezehrend als muslimische Frau in unserer Öffentlichkeit zu sprechen. Denn wir sind unheimlich verletzlich; ich würde sogar sagen, wir sind sehr verletzt. Damit meine ich nicht, dass wir überaus sensible Menschen sind. Vielmehr werden wir Frauen – und damit meine ich nun alle Frauen – zur Verletzlichkeit, zur Schwäche, zur Nachgiebigkeit, zum Gefügigsein und zum Schweigen erzogen. Unsere Erziehung ist durchzogen von Demütigung und Herablassungen und dem innerlichen wie äußerlichen Zurechtstutzen, um irgendeinem Ideal zu entsprechen. Sei es ein Schönheitsideal, ein Mutterideal oder dem Ideal des Begehrtwerdens, Neudeutsch „fuckability“. Der kritische Blick von außen wird bereits von jungen Mädchen verinnerlicht und formt sich im Laufe des Heranwachsens zur inneren Selbstzensur. Das ständige Hinterfragen der äußeren Erscheinung und des Auftretens erleben wir Frauen nicht nur aus unserem direkten Umfeld, wir lieben es auch, es an uns selbst zu praktizieren. Die ständigen Hinweise auf die Haare, die unter dem Kopftuch hervorschauen, die zu laute Stimme, die unangebrachte Kritik; die mangelnde Solidarität unter Frauen – das sind alles Symptome dessen. Wenn die Selbstkritik ihre schlimmste Form – den Selbstzweifel – angenommen hat, hat auch die symbolische Ordnung der Geschlechter ihr ultimatives Ziel erreicht: Nämlich die Negierung des weiblichen Subjekts und in Folge dessen die Desintegration des Weiblichen aus dem Leben. Als muslimische Frauen sind wir besonders von diesen Wirkmechanismen betroffen, da wir als Spiegel und Stellvertreter für alle möglichen Diskurse und Zuschreibungen herhalten müssen. Damit bieten wir eine besonders sensible Angriffsfläche. Es wird auch Ihnen bereits aufgefallen sein: Wenn es um „den Islam“ geht, dann geht es auch immer irgendwie um „die muslimische Frau“. Aber warum ist das Geschlechterthema an sich stets von einer geradezu hysterischen Debatte begleitet?

[2. Warum das Geschlechterthema stets von Hysterie begleitet ist: Der weibliche Körper als Kollektivkörper]

Die Antwort ist: Der weibliche Körper repräsentiert in modernen Gesellschaften die Gemeinschaft und die imaginierte kollektive Identität. Dies gilt für westliche Gesellschaften wie auch für islamische Gesellschaften. Die Geschlechterpolitik in modernen Staaten wie Saudi-Arabien oder Iran zielt genau auf diese kollektive Identität ab. Damit ist der Frauenkörper eine Projektionsfläche für kollektive Bedürfnisse und Identitäten.

Unsere individuellen Frauenkörper werden somit zu Repräsentanten und zum Spiegelbild der Gemeinschaft, mit der wir uns identifizieren, gedeutet. Deswegen ist der Frauenkörper, unabhängig davon, wie er aussieht oder bekleidet ist, in unserer Zeit immer die Projektionsfläche für die kollektive Identität. Und aus diesem Grunde werden am Frauenkörper und damit an der Frau an sich kulturelle Kämpfe einerseits, aber andererseits auch Kämpfe um die hierarchische Ordnung der Gesellschaft ausgetragen. Das ist der wahre Grund, warum Frauen und ihre Körper ständig der Beurteilung und kritischen Prüfung unterliegen. Aus der Betrachtung und Bewertung des individuellen Frauenkörpers wird der Zustand des kollektiven Körpers gemessen.

Deswegen wird nicht nur das Aussehen und Auftreten von Frauen bewertet und genormt, sondern auch ihre Sexualität und Mutterschaft. Auch die Frage, ob Frauen zur Fortpflanzung beitragen wollen oder nicht interessiert das Kollektiv – ich erinnere da nur an die aktuelle Debatte um den Paragrafen um Schwangerschaftsabbrüche. Besonders Menschen und Männer, die selbst gar nicht betroffen sind, sind bei diesem Thema emotional involviert. Warum fühlen sie sich denn betroffen, wenn es nicht um ihren individuellen Körper geht? Ganz klar: Für sie steht die Schwangere in dieser Debatte für den Kollektivkörper – und über dessen Verfasstheit wollen natürlich alle eine Verfügungsmacht haben.

Ein anderes Beispiel ist unser Umgang mit dem Kopftuch: Dieses Stück Kleidung ist regelrecht zu einem Fetischobjekt der kollektiven Identität umgedeutet worden. Das Kopftuch und die Bekleidung von Frauen ist immer ein Objekt von Zuschreibungen. Zuschreibungen hingegen haben etwas mit der Macht des Blicks zu tun. Der Blick ist in europäischen Gesellschaften männlich assoziiert. Aus diesem Grunde wird die Entblößung des weiblichen Körpers im Westen mit Freiheit gleichgesetzt und die Bedeckung der Frau mit Unterdrückung. In modernen muslimischen Gesellschaften dagegen gilt das Bedecktsein der Frau als Befreiung und ihre Nacktheit als Unterdrückung; dies ist als eine Reaktion auf die kulturelle Hegemonie des Westens entstanden.

Es geht also nie um die Autonomie oder die freie Kleidungswahl der Frauen: Der männliche, subjektive Blick auf den weiblichen Körper als Objekt symbolisiert die hierarchische Geschlechterordnung. Der Mann bzw. das männliche Prinzip gilt als das aktiv Handelnde und Definierende (es definiert somit, ob die Frau frei oder unterdrückt ist); die Frau bzw. das weibliche Prinzip bleibt damit passiv und fremdbestimmt. Der Mann ist der Schauende, die Frau ist die Angeschaute. Die Assoziation von Freiheit mit Entblößung und Unterdrückung mit Bedecktheit hat dabei nichts mit der individuellen, freien Wahl von Frauen zu tun. Der männliche, dominante Blick kann nämlich auch von Frauen eingenommen werden – etwa wenn Alt-Feministinnen im Namen der „Emanzipation der muslimischen Frau“ diesen die Autonomie absprechen, ihre Bekleidung frei zu wählen und die Codes ihrer Kleidung selbst zu bestimmen. Oder wenn Heidi Klum ihre Models nach den Gesetzen des Markts bewertet. Das Absprechen der freien Entscheidung und der Selbstbestimmung von Frauen im Namen der Gemeinschaft muss daher als ein Akt der Gewalt gegen Frauen gewertet werden.

Ein anderes Beispiel für den weiblichen Kollektivkörper ist die Vergewaltigung von Frauen als eine Waffe im Krieg. Sie ist eine besonders perfide Machtdemonstration, da sie nicht nur Frauen demütigt und verletzt, sondern in der Absicht geschieht, die gesamte Gemeinschaft zu verletzen und auszulöschen.

Auch in der Berichterstattung um die Kölner Silvesternacht 2015/2016 offenbarten sich Ängste um die kollektive Identität, als in den Medien der Eindruck vermittelt wurde, dass wir es mit einer Invasion von Flüchtlingen zu tun haben, die „unsere Frauen“ vergewaltigen.

Der ungezügelte Hass gegen Frauen in der Shitstorm-Kultur des Internets rührt auch daher, dass diese Frauen als symbolische Körper der kollektiven Identität wahrgenommen werden. Alle feministischen Versuche, die symbolische Geschlechterordnung zu verändern und den Frauen ein Stück Autonomie zu verschaffen, werden demonstrativ auf aggressivste Weise niedergemacht.

[3. Verletzlichkeit von muslimischen Frauen als Sprecherinnen im öffentlichen Diskurs]

Sichtbare muslimische Frauen bewegen sich im Spannungsfeld von gleich mehreren Kollektiven: Sie und ihre Körper dienen als Projektionsfläche für Zuschreibungen aus allen möglichen Richtungen. Zum Beispiel werden auf muslimischer Seite Frauen auf die Podien geschoben und gesetzt, um auf Veranstaltungen für die nichtmuslimische Öffentlichkeit die eigene Fortschrittlichkeit zu demonstrieren. Es wird oft erwartet, dass man als Muslima in der Öffentlichkeit unsere Gemeinschaft vorbildlich repräsentiert, dass man Dinge zur Verteidigung unseres Kollektivs sagt, und dass man sich beispielsweise erfolgreich gegen Islamkritik und das negative Islambild positioniert. Diese Wahrnehmung der muslimischen Frau als Repräsentantin der muslimischen Gemeinschaft beobachte ich auch in ganz anderen Diskurssphären: Im islamkritischen/islamfeindlichen Diskurs, im links-grünen Diskurs, in rechtspopulistischen Äußerungen, wie auch im feministischen Kontext – die Erwartung, dass die sichtbare Muslima stellvertretend für das muslimische Kollektiv spreche, stammt also nicht allein aus der muslimischen Community.

Das öffentliche Auftreten und das autonome Agieren von muslimischen Frauen führen stets dazu, dass der Projektor der kollektiven Identität hervorgeholt wird. Menschen projizieren ihre eigenen Wünsche, Ideen, Bedürfnisse, ihren Hass und ihre Liebe, ihre kollektiven Erwartungen auf die öffentlich sprechende muslimische Frau. Wenn aber der Körper muslimischer Frauen stellvertretend für alle anderen Muslime zur Angriffsfläche wird; wenn muslimische Frauen stellvertretend für das Kollektiv angegriffen, getreten, bespuckt und geschlagen werden, bleibt die echte Solidarität und Empathie unserer muslimischen „Brüder“ leider aus. Die symbolische Geschlechterordnung erfüllt in solchen Situationen wieder ihren vollen Zweck, nämlich die Etablierung einer sozialen Hackordnung.

Am Ende geht es beim Geschlechterverhältnis immer um ein Machtverhältnis. Es geht um die symbolische und die tatsächliche Ordnung von Herrschenden und Beherrschten. In diesem Sinne möchte ich einige Fragen an das Podium weitergeben:

***

Welche Wirkmacht hat Religion auf die Frage von Geschlecht?

Warum haben wir auch in säkularisierten Gesellschaften nach wie vor Probleme mit der Gleichstellung der Geschlechter? Inwiefern wirkt hier noch die biblische Schöpfungsgeschichte nach, wonach Eva als ein niedrigeres Wesen als Adam erschaffen wurde?

Und: Inwiefern sind auch Frauen nicht nur „Opfer“ von patriarchaler Macht und Gewalt, sondern auch „Täterinnen“?

Und nun freue ich mich auf eine spannende Diskussion.

Das vollständige Video vom Muslimischen Quartett zum Thema “Macht und Geschlecht”:

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4 thoughts on “Die Verletzlichkeit der muslimischen Frau und die symbolische Geschlechterordnung

  1. […] Inputvortrag von Dr. Nimet Şeker am 26. Februar 2019 in Hamburg – Gesamtvortrag kann hier gelesen werden […]

    1. Die Stellung der Frau bzw. ihres Körpers als “Projektionsfläche für die kollektive Identität” sehe ich hier krass überbewertet.
      Auch Männer unterliegen gesellschaflichen Normen, die von Frauen definiert werden. Sie müssen groß, stark, erfolgreich, reich, durchsetzungsstark, … sein. Den Frauen etwas bieten können. Frauen “beschützen” können. Das erklären Frauen in allen Datingshows. Wenn man diesen Druck als Mann thematisiert, dann hat man sich gleich als Schwächling geoutet.

      Das Hauptproblem der Berichterstattung um die Kölner Silvesternacht (und anderer Großstädte) war, das zunächst tagelang versucht wurde die Vorgänge zu vertuschen und jeder, der die Wahrheit erzählt hat, diffamiert wurde. Und das dann Rücksicht und Verständnis für die “Gruppe” gefordert wurde aus der so gut wie alle Täter kamen.

      Die problematischen Botschaften die das Kopftuch in die Gemeinschaft der Ungläubigen sendet sind, wie ich denke, geschlechterunabhängig. Nur das muslimische Männer kein vergleichbares Symbol tragen müssen.

  2. Sehr spannend! Ist es möglich, das Gespräch als video zu sehen? Lieben Dank und Gruß,
    ) Lia Sáile

  3. Ja, der Beitrag ist mittlerweile online auf unserem Youtube-Kanal abrufbar: https://youtu.be/UlRJ28ag-Gs

    Beste Grüße

    Engin Karahan

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