Impulsvortrag gehalten am 29. November 2018 auf der Auftaktveranstaltung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) in Berlin
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
In meinem Impulsvortrag möchte ich gerne den Titel der heutigen Auftaktveranstaltung aufgreifen und mich der Frage widmen, wie es sich gegenwärtig verhält mit den muslimischen Identitäten in Deutschland. Ich spreche hier bewusst von Identitäten im Plural. Denn es ist mittlerweile eine Binsenwahrheit, dass muslimisches Leben in Deutschland – im Übrigen auch im restlichen Europa – eine enorme Vielfalt an Ausprägungen und Ausdrucksformen aufweist.
Als mit dem Beginn der Arbeitsmigration in den 1960er Jahren die ersten Muslime nach Deutschland kamen, war die Frage nach der Identität noch vergleichsweise leicht zu beantworten. Sowohl aus Sicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft, als auch aus Sicht der Migranten selbst war klar, dass Muslime in diesem Land Fremde waren. Wie es sich auch in dem Begriff des Gastarbeiters niederschlug, waren sie Gäste auf Zeit. Zu Beginn wurde diese erste Einwanderergeneration nicht so sehr als Muslime wahrgenommen, sondern vielmehr als Türken, Marokkaner, Tunesier u. ä. – als Ausländer eben. Ihre Religion, der Islam, machte allerdings einen wesentlichen Teil dieser vorrangig ethnischen Identität aus. Es wurde nicht unterschieden zwischen beispielsweise dem türkischen und dem muslimischen Teil der eigenen Identität. Beides war untrennbar miteinander verbunden, und, ja, man könnte sogar sagen, in ihrem Selbstverständnis war für viele beides letztlich ein- und dasselbe.
Die ersten Moscheen, die hier gegründet wurden – die sogenannten Hinterhofmoscheen –, sowie auch die später ins Leben gerufenen muslimischen Vereine und Verbände dienten also zunächst zur Wahrung eben dieser ethnischen Religion. Deutlich erkennbar ist dies an den Selbstbezeichnungen der Vereine: Millî Görüş (nationale Weltsicht), Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DİTİB), Vereinigung islamischer Gemeinden der Bosniaken in Deutschland, Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland, Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine usw. Religiöse Unterweisung erfolgte dementsprechend in der Sprache der jeweiligen Herkunftsländer.
Mit der zweiten, spätestens aber der dritten Einwanderergeneration änderte sich dieses Bild grundlegend. Die zunehmende Anzahl derjenigen Musliminnen und Muslime, die hier geboren und sozialisiert waren und neben ihrer Muttersprache auch Deutsch (später sogar fast nur noch Deutsch) sprachen, führte zu einem immer sichtbarer werdenden Konflikt. Dieser Konflikt drehte sich in erster Linie um die Frage nach der eigenen Beheimatung: wo ist unser Ort in dieser Gesellschaft? Sind wir immer noch Fremde oder Gäste? Wie definieren wir unsere muslimische Identität angesichts der Tatsache, dass unsere Eltern und Großeltern aus sogenannten islamischen Ländern hierhergekommen sind, wir aber nunmehr seit mehreren Generationen hier leben, einen vollkommen anderen Bezug zu den Herkunftsländern haben und teilweise die Sprache unserer Eltern und Großeltern gar nicht mehr sprechen?
Entscheidend vor dem Hintergrund dieser Fragen waren auch und vor allem die innermuslimischen Debatten darüber, wie sich die unterschiedlichen Verständnisse von Identität und Beheimatung nun unmittelbar auf die Verbandsarbeit auszuwirken haben. Was sollten also die gesellschaftlichen Anliegen sein? Wie sollten sich die Verbände in Zukunft inhaltlich wie personell aufstellen?
Wie sie sehen, waren es also keine primär theologischen Differenzen, die hier zum Ausdruck kamen, sondern, wenn man so will, vor allem gesellschaftspolitische. Ausgetragen wurden diese Konflikte zunächst zum großen Teil innerhalb der Verbände. Von außen hingegen nahm man sie als Generationenkonflikt wahr, im Zuge dessen sich junge und reformerische Strömungen gegen die konservativen Funktionärsriegen auflehnten und – so die Hoffnung vieler – früher oder später die Leitung der Verbände übernehmen würden.
So einfach war es natürlich nicht. Nichtsdestotrotz führte dieser innere Streit letzten Endes doch zu einer Art Emanzipation und zu eben jener Diversifizierung, von der ich eingangs sprach. Die muslimische Zivilgesellschaft differenzierte sich immer mehr aus, so dass wir es heute nicht mehr nur noch mit großen Verbänden zu tun haben, sondern auch mit vielen – zum Teil lokalen – kleineren Initiativen, Vereinigungen und Netzwerken. Diese verstehen sich jedoch häufig nicht als Religionsgemeinschaften, sondern in erster Linie als Teil der deutschen Zivilgesellschaft. Sie erheben nicht den Anspruch, religiöse Wahrheiten zu produzieren, sondern ihnen geht es vielmehr darum, am Gemeinwohl orientierte Leistungen zu erbringen. Gleichwohl tun sie dies aus einem religiösen Selbstverständnis heraus, welches sich aber zuallererst in der hiesigen Gesellschaft verortet.
Ich möchte an dieser Stelle noch anmerken, dass diese Entwicklung keineswegs eine ungewöhnliche ist, sondern eine, die man in vielen Einwanderungsgesellschaften beobachten kann. Die von mir hier, zugegeben: etwas vereinfacht, skizzierte zunehmende Ausdifferenzierung zivilgesellschaftlicher Strukturen ist nämlich ein Indiz dafür, dass sich die Bedarfe der muslimischen Bevölkerung Deutschlands immer mehr denen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft angleichen. Sie ist, wenn man so will, ein Zeichen von gelungener Integration. Deshalb sollte es auch nicht verwundern, dass diese neuen Akteure sich ganz selbstverständlich als – ich habe es schon gesagt – Teil der deutschen Zivilgesellschaft oder eben als deutsche Muslime begreifen.
Mit diesem Anspruch stellen sie zugleich aber eine Herausforderung in mindestens zweierlei Hinsicht dar. Zum einen stellen sie die unter Musliminnen und Muslimen gängigen Selbstbilder in Frage, die von einer Kongruenz ethnischer und religiöser Identität ausgehen. Muslimisch zu sein heißt für sie eben nicht mehr, zugleich auch türkisch, bosnisch usw. zu sein. Zum anderen aber – und das ist mindestens genauso wichtig – widerlegen sie in der sogenannten Mehrheitsgesellschaft verbreitete Auffassungen von dem, was das Deutschsein ausmacht. Konkret: der Islam ist für sie nicht mehr die Religion von Fremden oder Gästen. Er ist heute ein integraler und konstitutiver Bestandteil der deutschen Gesellschaft.
Dieser Anspruch, zugleich Muslimin/Muslim und Deutsche/Deutscher zu sein, hat also eine gewichtige Implikation: das Ankommen in Deutschland setzt demnach nicht einen vollständigen Bruch mit den islamisch-religiösen Traditionen der Eltern voraus. Es ist vielmehr ein Übertragen, ein Übersetzen religiöser Prinzipien und Inhalte in das Hier und Jetzt.
Hier wird ein weiterer Punkt deutlich, auf den ich etwas näher eingehen möchte: obwohl die innermuslimischen Differenzen, von denen ich eben sprach, zunächst eher gesellschaftspolitischer und nicht theologischer Natur waren, haben sie doch eine theologische Relevanz. Es stellt sich jetzt nämlich die Frage, was denn eigentlich – wenn nicht eine ethnische oder kulturelle Identität – muslimische Religiosität im Kern ausmacht. Also: Was genau ist es, das ich bewahren muss? Was kann ich beibehalten? Und wovon sollte, kann oder muss ich mich sogar lösen? Wie – konkret – also sollte sich der Islam nunmehr aus der deutschen Lebenswirklichkeit heraus artikulieren? Welche Sprache müssen wir dafür finden?
Auch diese Fragen beschäftigen gegenwärtig die Musliminnen und Muslime in Deutschland, und zwar sowohl die jüngeren als auch die älteren Generationen. Auf der einen Seite steht die Forderung nach der Etablierung eines deutschsprachigen Islams, auf der anderen die Ansicht, dass die deutsche Sprache als eine Sprache, die historisch sehr stark vom Christentum geprägt wurde, sich zur Vermittlung islamisch-religiöser Inhalte eben – noch! – nicht eignet. Die vielleicht sogar nachvollziehbare Befürchtung ist hier daher, dass mit dem Verlust beispielsweise der türkischen Sprache unter Umständen auch wesentliche Elemente des Islams verloren gehen könnten. Lost in translation quasi!
Vor genau diesem Hintergrund sind nun auch die unterschiedlichen Positionen zu beurteilen, die zur Sprache gebracht werden. Hier hat die Forderung nach einem deutschsprachigen Islam genauso ihre Berechtigung wie die Bedenken hinsichtlich einer möglichen Entstellung des Islams. Die Berührungsängste Vieler mit einem wie auch immer gearteten deutschen Islam dürfen wir daher nicht einfach als kruden Konservatismus, als Nationalismus oder Chauvinismus abtun.
Eindeutige Antworten auf diese und viele andere Fragen sind noch lange nicht in Sicht – vielleicht aber auch nicht wirklich erstrebenswert. Vielleicht ist es ja gerade dieser Konflikt, dieser innermuslimische Streit, der den Islam in Deutschland heute auszeichnen sollte: eine offene Debatte darüber, was es eigentlich heißt, eine Muslimin oder ein Muslim in Deutschland zu sein.
Wichtig ist aber, dass die Entscheidungen über muslimische Anliegen in Deutschland tatsächlich auch von Musliminnen und Muslimen hier in Deutschland getroffen werden. Nicht per Dekret aus Ankara oder unter dem Deckmantel einer sogenannten Diasporapolitik. Diaspora ist zu Ende. Wir leben nicht in der Fremde. Deutschland ist für uns Musliminnen und Muslime Heimat geworden.
Bei allem Streit und allen inhaltlichen Differenzen dürfen wir jedoch eines nicht tun: wir dürfen nicht, wie es häufig geschieht, die muslimische Bevölkerung in sogenannte gute und schlechte Muslime unterteilen. Nicht, indem wir Andersdenkende z.B. über regierungsnahe türkische Medien schlichtweg diffamieren und verleumden. Aber auch nicht in Form einer sogenannten Islamkritik, die die Bezeichnung Kritik gar nicht verdient, zumal sie allzu undifferenziert und banal daherkommt. Vielmehr gilt es, die muslimischen Stimmen und Ausdrucksformen in diesem Land in ihrer Vielfalt zu erkennen und auch anzuerkennen und – egal, wo und wie man sich selbst positioniert – Musliminnen und Muslime eben nicht pauschal über einen Kamm zu scheren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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