Die Bedeutung einer selbstkritischen muslimischen Binnenperspektive im Kampf gegen Muslimfeindlichkeit

Murat Kayman sprach für die Alhambra Gesellschaft als Anzuhörender in der 5. Sitzung der Enquete-Kommission „Für gesellschaftlichen Zusammenhalt, gegen Antisemitismus, Rassismus, Muslimfeindlichkeit und jede Form von Diskriminierung“ am 11.07.2025 im Abgeordnetenhaus von Berlin

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Im Einsatz gegen Muslimfeindlichkeit, brauchen wir eine Vielzahl von Strategien: Aufklärung und Sensibilisierung in der Mehrheitsgesellschaft, rechtliche Schritte gegen Diskriminierung und die Stärkung muslimischer Akteure. Diese externen Maßnahmen sind unerlässlich und müssen konsequent weiterverfolgt werden.

Parallel zu diesen externen Maßnahmen ist es jedoch von großer Bedeutung, eine selbstkritische muslimische Binnenperspektive zu fördern.

Es geht darum, dass muslimische Gemeinschaften und Individuen die Mechanismen von Muslimfeindlichkeit nicht nur als etwas von außen Kommendes betrachten, sondern auch aktiv reflektieren, inwiefern bestimmte interne Dynamiken oder Kommunikationsweisen Angriffsflächen bieten oder Entfremdungstendenzen fördern können.

Das bedeutet keineswegs, die Verantwortung für Muslimfeindlichkeit den Betroffenen zuzuschieben – diese liegt klar bei den Tätern und in den Strukturen, die Diskriminierung ermöglichen. Das steht völlig außer Frage.

Vielmehr geht es darum, proaktiv zu agieren und die eigene Handlungsfähigkeit zu stärken, um die Wirkung von Muslimfeindlichkeit zu minimieren und zugleich ein eigenes, der gesellschaftlichen Partizipation zugewandtes Narrativ zu festigen, um identitären Glaubensvorstellungen vorzubeugen.

Eine solche Binnenperspektive könnte die folgenden vier Punkte beinhalten:

  1. Differenzierung und Kontextualisierung der Vielfalt: Innerhalb muslimischer Gemeinschaften gibt es eine immense Vielfalt an Meinungen, Praktiken und Interpretationen. Diese Vielfalt muss auch nach außen getragen werden. Eine selbstkritische Perspektive würde dazu ermutigen, Stereotypen, die Muslime auf eine homogene Gruppe reduzieren, aktiv entgegenzuwirken. Es müssen für die Öffentlichkeit sichtbare Diskurse darüber geführt werden, welche Überzeugungen und Narrative innerhalb der muslimischen Gemeinschaften antidemokratische Ideologien fördern. Wenn muslimisches Leben nicht als problematische „monolithische Einheit“ wahrgenommen und gedeutet werden soll – eine mittlerweile etablierte antimuslimische Abwertungserzählung – müssen Muslime eigenen innermuslimischen Tendenzen entgegenwirken, mit denen sie die muslimische Binnenvielfalt selbst abwerten und selbstkritische muslimische Akteure ausgrenzen.
  • Offener Dialog über problematische Interpretationen und Praktiken: Es gibt theologische oder soziale Interpretationen innerhalb muslimischer Kontexte, die in Konflikt mit den Werten einer offenen und liberalen Gesellschaft stehen können. Eine selbstkritische Auseinandersetzung bedeutet, diese Themen intern, aber gleichzeitig für die Öffentlichkeit wahrnehmbar offen und ehrlich zu diskutieren, progressive Interpretationen zu fördern und sich klar von Ansichten zu distanzieren, die Diskriminierung oder Ausgrenzung befeuern könnten. Dies erfordert Mut und die Bereitschaft, unbequeme Fragen zu stellen. Dazu gehört die Diskussion, in welcher Weise muslimische Gemeinschaften sich als Teil der deutschen Gesellschaft begreifen und was dieses Selbstverständnis für tradierte Glaubensüberzeugungen bedeutet.
  • Stärkung von Selbstreflexion und Resilienz: Indem muslimische Gemeinschaften einen Raum für kritische Selbstreflexion schaffen, können sie lernen, mit Vorurteilen und Anfeindungen umzugehen, ohne in eine lediglich passive Opferrolle zu verfallen oder sich aus der Gesellschaft zu isolieren. Das fördert Resilienz und die Fähigkeit, konstruktiv auf Herausforderungen zu reagieren. Es geht darum, eine Mentalität zu entwickeln, die nicht nur auf Abwehr setzt, sondern auch auf aktive Gestaltung und Selbstbehauptung im positiven Sinne.
  • Proaktive Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit: Eine selbstkritische Perspektive kann auch bedeuten, die Art und Weise der Kommunikation mit der Mehrheitsgesellschaft und innerhalb der eigenen muslimischen Gemeinschaften zu überdenken und zu verbessern. Wie können muslimische Gemeinschaften ihre Botschaften so formulieren, dass sie gesellschaftlichen Fliehkräften entgegenwirken – und zwar im Außenverhältnis und gleichzeitig in den innermuslimischen Verhältnissen?

Die Förderung einer selbstkritischen muslimischen Binnenperspektive ist somit eine wesentliche Säule für Empowerment und Prävention.

Empowerment, weil sie muslimischen Individuen und Gemeinschaften die Werkzeuge an die Hand gibt, sich selbstbewusst und aktiv gegen Muslimfeindlichkeit zur Wehr zu setzen und dabei ihre eigene Rolle als freiheitsfördernde gesellschaftliche Kraft zu stärken. Es ist ein Empowerment, das von innen kommt und die eigene Gestaltungskraft betont. Es ermöglicht muslimischen Gemeinschaften und Individuen, die Deutungshoheit über sich selbst und den eigenen Glauben zurückzugewinnen, anstatt sich von externen muslimfeindlichen und demokratiefeindlichen islamistischen Narrativen definieren zu lassen.

Prävention, weil sie dazu beitragen kann, die Grundlagen für Muslimfeindlichkeit zu entziehen. Nach außen erkennbare selbstkritische innermuslimische Binnendiskurse können muslimfeindliche Annahmen proaktiv ausräumen, die innermuslimische Argumentation gegen extremistische, islamistische Überzeugungen plausibler und die Vielfalt innerhalb muslimischer Gemeinschaften sichtbar machen.

Damit können Muslime Selbstwirksamkeit erfahren: weil sie durch eigenes Handeln ein differenziertes Bild schaffen, das Vorurteile erschwert.

Um diese selbstkritische Binnenperspektive zu fördern, bedarf es konkreter politischer Schritte:

Stärkung progressiver Stimmen: Wir müssen jene muslimischen Initiativen und Personen unterstützen, die sich für ein freiheitsförderndes, weltoffenes und pluralistisches Glaubensverständnis einsetzen und hierfür den innerislamischen Diskurs vehement einfordern und vorantreiben.

Das Einfordern und die Förderung innermuslimischer Dialogräume: Wir brauchen mehr Plattformen für offene und öffentliche Diskussionen innerhalb muslimischer Gemeinschaften, in denen auch schwierige Themen konstruktiv angesprochen werden können. Diese Forderung muss zum dauerhaften religionspolitischen Inventar beim Austausch mit muslimischen Organisationen werden.

Im Kampf gegen Muslimfeindlichkeit können wir nur dann wirklich erfolgreich sein, wenn wir nicht nur äußere Strukturen bekämpfen, sondern auch die inneren Potenziale muslimischer Gemeinschaften zur Selbstreflexion und selbstkritischen Weiterentwicklung nutzen.

Die Entfaltung dieser Potenziale einzufordern ist keine Stigmatisierung von Musliminnen und Muslimen, sondern Ausdruck der Solidarität mit ihnen als Glaubensgemeinschaft, deren Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit wir ernst nehmen – und damit auch ihre konstruktive, gestaltende Rolle in einer demokratischen Gesellschaft.

Categories: Aktuelles

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