Podiumsdiskussion: Die Vielfalt der muslimischen Zivilgesellschaft – Erfolge und Herausforderungen muslimischer Basisarbeit

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Ein Bericht von Klaus Waldmann

Die Vielfalt des Engagements von Muslim:innen für das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland stand im Zentrum einer öffentlichen Podiumsdiskussion am 4. Juli 2025 in Stuttgart. Denn Muslim:innen sind in Sportvereinen aktiv, sie haben etliche Vereine gegründet, sie haben zahlreiche Gelegenheiten der Jugendarbeit geschaffen, sie brachten eine Menge Einrichtungen der Sozialen Arbeit auf den Weg, sie haben Bildungseinrichtungen für Jugendliche und Erwachsene sowie Organisationen der Jugendsozialarbeit aufgebaut, sie betreiben eine große Zahl von Kindertagesstätten, sie haben Initiativen der Demokratiebildung ins Leben gerufen, sie gründeten Beratungsstellen für Extremismusdistanzierung, sie arbeiten mit Studierenden an Hochschulen und stellen Bündnisse für Begegnungen und gesellschaftliche Diskurse auf die Beine, sie bringen sich in gesellschaftliche Diskurse ein, wirken in Beiräten und Gremien auf kommunaler, Länder- und Bundesebene mit und sind in vielen weiteren gesellschaftlichen Bereichen aktiv. Naheliegend ist, dass sie sich für ihre religiösen Angelegenheiten einsetzen, entsprechende Räumlichkeiten schaffen und sich religionspolitisch zu Wort melden, aber die wenigen Beispiele zeigen, dass ihre Verantwortung für das Soziale weit darüber hinaus reicht.

Muslimisches Leben in Deutschland gerät immer wieder vor allem im Zusammenhang mit Krisen und Problemen in den Blick der Öffentlichkeit und wird zum Gegenstand aufgeregter Diskurse. Immer wieder zeigen Umfragen, dass der Islam und Muslim:innen von Vielen immer noch als Bedrohung einer offenen, liberalen Gesellschaft betrachtet wird. Vor diesem Hintergrund war das Anliegen der Podiumsdiskussion, auf die Breite und die Erfolge muslimischen Engagements in diesem Land aufmerksam zu machen. Gleichzeitig galt es zu reflektieren, welche Widerstände und Hindernisse Muslim:innen überwinden müssen, damit sie ihre Vorstellungen, Interessen und Wünsche in die Gestaltung der Gesellschaft in Deutschland einbringen können. In dieser Perspektive konnte im Gespräch auf verschieden Beiträge der muslimischen Community für das zukünftige Zusammenleben aufmerksam gemacht werden. An der Diskussion haben teilgenommen:

Hakan Turan, Dipl.-Physiker, Gymnasiallehrer in Stuttgart, bildet Referendar:innen in Pädagogik sowie im neuen Gymnasialfach Islamische Religionslehre aus und schreibt auf seinem Blog andalusian.de

Simone Trägner, Islamwissenschaftlerin, ist als freiberufliche Referentin und Beraterin in der Islamberatung tätig.

Mersad Rekić, Initiative Muslimischer Begegnungs- und Gebetsraum Stuttgart

Derya Şahan, Abteilungsleiterin bei der Fachstelle Extremismusdistanzierung, Stuttgart

Die Moderation des Gesprächs übernahm Eren Güvercin, Leiter des Projekts „MuslimDebate 2.0 – Gesellschaft gemeinsam gestalten!“.

Buntes und dynamisches Engagement

Einführend gab Frau Şahan einen knappen Überblick über das mannigfaltige gesellschaftliche Engagement von Muslim:innen. Dieses Feld sei von Dynamik, Vielfalt und tiefgreifenden Spannungen geprägt sowohl innerhalb der muslimischen Community als auch im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft. Die Realität des Engagements beschrieb sie als komplex, widersprüchlich und herausfordernd. Denn muslimisches Engagement entstehe nicht im luftleeren Raum. Es werde durch Erfahrungen, Ressourcen und Entwicklungen innerhalb der eigenen Community ebenso beeinflusst, wie durch politische Debatten, gesellschaftliche Erwartungen, kulturelle Traditionen und institutionelle Rahmenbedingungen. Die damit verbundenen Ambivalenzen seien Teil der Wirklichkeit und müssten differenziert betrachtet werden. Sie unterstrich, dass die Beteiligung muslimischer Stimmen am gesellschaftlichen Gespräch wichtig ist, doch Muslim:innen würden oft zu leise bleiben oder die Initiativen nicht wahrgenommen werden.

Frau Şahan vertrat die These, dass sich muslimisches Engagement in Deutschland an einem entscheidenden Punkt befindet. Zwar sei es in den zurückliegenden Jahren erfreulich gewachsen und vielfältiger geworden, dennoch würden viele Ansätze fragmentiert bleiben, ständen unverbunden nebeneinander oder wären gesellschaftlich nicht sichtbar. Zwischen den Erwartungen an Engagement und Initiativen und den unterschiedlichen Erfahrungen würden erhebliche Lücken klaffen, die sich nicht über Nacht schließen ließen. Aktuell sei zu beobachten, dass es innerhalb muslimischer Gemeinschaften Bewegung und Umbrüche gibt. Neue Stimmen würden sich Gehör verschaffen, in Vereinen, in zivilgesellschaftlichen Initiativen, in politischen und sozialen Kontexten würden Muslim:innen Verantwortung übernehmen. Es seien neue Strukturen und frische institutionelle Formate entstanden, die als Zeichen für einen weitgehenden Wandel verstanden werden können. Trotz dieser grundsätzlich positiven Sicht auf ein sich ausweitendes Engagement von Muslim:innen, war es Frau Şahan wichtig, auf bestehende Herausforderungen hinzuweisen. Sie führte aus, dass ein unvoreingenommener Blick auf muslimisches Engagement in Deutschland nicht nur zeige, was sichtbar ist, sondern vor allem das, was übersehen werde. Neben vitalen Initiativen, engagierten Stimmen und innovativen Strukturen wären zahlreiche Leerstellen, schmerzende Wunden und Zeichen von Überlastung zu erkennen.

Eine Hürde für das Engagement von Muslim:innen sei, dass sie häufig kränkende und diskriminierende Ausgrenzung erleben würden. Frau Şahan wies darauf hin, dass es in Deutschland pro Tag acht gemeldete antimuslimisch-rassistische Vorfälle gebe, wobei ohne Zweifel von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden müsse. In der muslimischen Community blieben diese Erfahrungen nicht ohne Wirkung. Sie führten zu Rückzugstendenzen und Verunsicherung, sie hoffte, dass diese gleichzeitig zu mehr Zusammenhalt und Selbstorganisation führten.

Am Schluss ihres Statements stellte sie die Frage nach den Voraussetzungen, damit muslimisches Engagement seine Wirkung entfalten könne? Weiter fragte sie: „Was brauchen wir, um die Gesellschaft gemeinsam zu gestalten, wo stehen wir uns selbst im Weg und wo fehlen uns Zugänge, Ressourcen oder Vertrauen?“ Zudem betonte sie, dass es ihr beim gemeinsamen Nachdenken über den Einsatz von Muslim:innen in der Gesellschaft um ein ehrliches Sprechen über das Unvollkommene ginge. Damit seien wichtige Anstöße für die eigene Motivation verbunden.

Erfahrungen, Enttäuschungen und Irritationen

Die Rolle eines langjährig Engagierten, der in verantwortlicher Position in seiner Moscheegemeinde und in übergemeindlichen Strukturen und Projekten sowie in zivilgesellschaftlichen Initiativen mitgearbeitet hat bzw. mitarbeitet, übernahm in der Gesprächsrunde Mersad Rekić. Er schilderte, dass er, als er volljährig wurde, auch Mitglied im Vorstand seiner Moscheegemeinde werden konnte. Eines seiner ersten Erlebnisse war, dass er mit dem Vorstand seiner Gemeinde an einem Austausch zwischen Moscheegemeinden teilnehmen durfte. Er war irritiert, dass die Sitzung auf Türkisch stattfand, in einer Sprache, die er nicht sprechen konnte und kaum verstand. Ca. 20 Jahre war er in dieser Gemeinde aktiv, u. a. als Vorstand des Moscheevereins. Herr Rekić schilderte, dass Moscheevereine in ihren Satzungen fixieren würden, dass sie die Lehren des Islam bekannt machen und dafür sorgen wollen, dass ihre Kinder diese Lehren sich aneignen. Nach seiner Erfahrung würden diese Vereine auch Ziele verfolgen, die den Vorständen und den Mitgliedern nicht immer völlig bewusst seien, bzw. die sie nicht klar formulieren würden. Nach seiner Einschätzung gehe es ihnen auch darum, Strukturen zu konservieren, die sie in seinem Kontext aus dörflichen Gemeinschaften der 1950er, 60er, 70er Jahre auf dem Balkan kennen würden. Diese Vorstellungen kontrastierten dann mit den Realitäten einer Großstadt.

Herr Rekić berichtet von Qualifizierungskursen für Moscheevereine, die von der Stabsstelle Integration der Stadt Stuttgart initiiert worden seien und in denen Grundlagen für die Arbeit der Vorstände und für die Öffentlichkeitsarbeit vermittelt wurden. Bei einer gemeinsamen Analyse sei dann festgestellt worden, dass es in der Stuttgarter Innenstadt keinen einzigen Raum für Muslim:innen gibt, die zu den verbindlichen Zeiten ihre Gebete verrichten wollen. Um einen Begegnungs- und Gebetsraum zu schaffen, schlossen sich verschiedene muslimische Vereine in einem diversen Bündnis zusammen. Er schildert, dass dazu die Ahmadiyya Gemeinde, ein alevitischer Verein, schiitische, sunnitisch-orthodoxe und bosnische Muslim:innen gehören. An diesem Beispiel zeigte Herr Rekić auf, dass bestehende Gräben zwischen unterschiedlichen muslimischen Strömungen überwunden werden können, wenn es darum gehe, eine Lösung zu erreichen, die allen nutzt. Dazu seien einfache Leitlinien erarbeitet worden wie z. B. dass jeder, der sich als Moslem bezeichnet, ist für uns ein Moslem. Zudem sei relevant gewesen, dass die Zusammenarbeit im Bündnis in deutscher Sprache erfolge.

Kritisch erwähnte er, dass das Projekt eines Begegnungs- und Gebetsraums in der Innenstadt ein großer Schritt wäre, um für Muslim:innen mehr Sichtbarkeit zu schaffen. Ein Problem sei, dass die Moscheegemeinden zwar die Anmietung eigener Räume befürworten würden, jedoch die Bereitschaft sehr gering sei, Geld für die Anstellung von Personal auszugeben, das in den neuen Räumlichkeiten Begegnungsformate entwickeln und realisieren könnte. Er sah zudem die Chance, die neuen Räume zu bewirtschaften und damit auch Einnahmen zu erzielen. Kurzfristig habe das Bündnis nun das Ziel, die Stadt Stuttgart davon zu überzeugen, eine Machbarkeitsstudie zu diesem Projekt im Hospitalviertel in der Innenstadt zu finanzieren, ein Quartier, in dem sich z. B. eine Synagoge und verschiedene Bildungseinrichtungen der Kirchen befänden.

Herr Rekić schilderte weiter, dass er sich aus der Mitwirkung in seinem Moscheeverband zurückgezogen habe, da seine Vorstellungen, welche Prioritäten für die zukünftige Arbeit des Verbands gesetzt werden müssten und denen anderer im Verband entgegenstehen würden. Während er dafür plädiert habe, mehr Personal für die Arbeit des Vereins einzustellen und Angebote für unterschiedliche Gruppen zu schaffen, hätte für andere im Vordergrund gestanden, in Gebäude und die Ausstattung von Räumlichkeiten zu investieren.

Frau Şahan gab einen Einblick in ihre Tätigkeit als Mitglied des Rundfunkrats des Südwestrundfunks (SWR). In diesem mit 74 Mitgliedern üppig besetzten Gremium vertritt sie seit 2020 die muslimische Community in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Der Rundfunkrat habe die Aufgabe, die Interessen der Allgemeinheit im Bereich des Rundfunks zu vertreten, die Einhaltung der Programmgrundsätze zu überwachen, über größere Programmvorhaben zu entscheiden, den Haushaltsplan zu genehmigen und er sei die Instanz, Programmbeschwerden zu behandeln. Plausibel beschrieb sie, wie es ihr als neues Mitglied in diesem Gremium ergangen ist. Sie erläuterte, welche Herausforderungen mit dieser Aufgabe für sie als ehrenamtlich tätiges Mitglied verbunden sind. Sie habe sich in das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einarbeiten müssen. Hilfreich sei gewesen, dass Vertreter:innen anderer Religionsgemeinschaften sie in diesem Prozess unterstützt hätten und sie sich auch weiterhin in einem regelmäßigen Austausch mit ihnen befindet. Sie führte aus, dass sie zwar die muslimische Community in diesem Organ vertrete, doch nehme sie nicht nur zu den Themen Stellung, die Muslim:innen in engerem Sinn betreffen würden, denn eigentlich beträfen alle Themen das Leben von Muslim:innen in Deutschland.

Frau Şahan sieht sich auch in einer medienpädagogischen Funktion, um die muslimische Community über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und seine Arbeitsweise zu informieren. Sie nehme ihre Rolle einer Repräsentation der muslimischen Community aktiv wahr und berichte über Themen, Fragestellungen und Diskurse im Rundfunkrat den Verbänden, die ihr das Mandat übertragen haben. Gegenüber der Redaktion des SWR, besser, gegenüber einzelnen Redaktionen des SWR übernehme sie eine beratende Funktion. Im weiteren Gespräch erwähnte sie, dass sie unterschiedliche Begegnungsformate für Muslim:innen mit Redakteur:innen des SWR entwickelt hätte, die zum Kennenlernen und zum Austausch zwischen beiden Gruppierungen dienten. Ihr Ziel sei es, den Mitgliedern der Moscheegemeinden zu vermitteln, was der öffentlich-rechtliche Rundfunk für das Zusammenleben in einer demokratischen, vielfältigen und offenen Gesellschaft bedeute. Ein weiteres Anliegen von Frau Şahan ist, das unterstrich sie im Gespräch, schlechte Erfahrungen der muslimischen Community mit der Berichterstattung in Medien über den Islam und Muslim:innen zu reflektieren, Arbeitsformen und -bedingungen der Journalist:innen transparent zu machen, aber auch zu Kritik an verzerrter oder einseitiger Berichterstattung zu motivieren. In diesem Kontext gelte es auch für die Verwendung möglicherweise diskriminierender Bilder und Symbole, die Fremdheit, Stereotypen und pauschalisierende Aussagen produzieren bzw. auslösen können, zu sensibilisieren. Als Beispiel diente die Bebilderung eines aktuellen Beitrags über die Corona-Pamdemie mit dem Foto einer Muslima mit Kopftuch. Während Frau Şahan diese Illustration als Exempel für eine Stigmatisierung und Verstärkung von Vorurteilen gegenüber Muslim:innen sah, wurde von Herrn Rekić zu bedenken gegeben, ob die Verwendung dieses Fotos an dieser Stelle nicht auch als Beleg betrachtet werden könne, dass Muslim:innen in der Gesellschaft angekommen sind.

Erfolge zivilgesellschaftlichen Engagements

Die Gesprächspartner:innen waren grundsätzlich der Meinung, dass im zivilgesellschaftlichen Engagement von Muslim:innen trotz aller vorhandenen Schwierigkeiten und Hindernisse entscheidende Schritte nach vorne erreicht werden konnten. Auf kommunaler Ebene, so Herr Rekić, hätten viele Prozesse angestoßen werden können. Es habe die Erkenntnis vermittelt werden können, dass Ehrenamtlichkeit auch Hauptamtlichkeit benötigt. Ehrenamtliches Engagement sei auf die Unterstützung durch Hauptamtliche angewiesen. Dabei gehe es um Beratung in besonderen Situationen, um Qualifikation für bestimmte Aufgaben, um anerkennende Begleitung und eventuell um Koordination verschiedener Akteur:innen und Initiativen. Erfreulich sei auch, dass es zunehmend möglich ist, innerhalb von Moscheegemeinden und Verbänden sowie auch verbandsübergreifend über Prioritäten in Hinblick auf die unterschiedlichen Aufgaben zu diskutieren. Die Erkenntnis sei gereift, dass auch innermuslimische Dialoge über künftige Schwerpunkte des Engagements erforderlich sind. Weiterhin habe sich gezeigt, dass die Kooperation zwischen muslimischen Akteur:innen funktioniere, wenn Dritte beteiligt sind und Muslim:innen mit einer Form der Öffentlichkeit konfrontiert seien. Zudem habe sich das Bewusstsein externer Kooperationspartner geschärft, dass die strukturelle Asymmetrie einer angestrebten Zusammenarbeit durch Powersharing ausgeglichen werden müsse.

Frau Trägner verwies darauf, dass das Engagement junger Muslim:innen in den zurückliegenden Jahren enorm angestiegen sei. Es gebe viele gut ausgebildete junge Muslim:innen, die wüssten wie eine Kommune und ein Moscheeverein funktioniert. Gerade in Hinblick auf Jugendorganisationen bestehe eine ausgeprägte Bereitschaft, an Weiterbildungsprogrammen teilzunehmen und z. B. die notwendigen Kenntnisse zu erwerben, um in Jugendringen Mitglied zu werden. Gleichzeitig äußerte sie die Besorgnis, dass aufgrund aktueller politischer Entwicklungen und als Auswirkung der gegenwärtigen kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten sich muslimische Jugendliche und Erwachsene im Moment stark zurückziehen würden. Dabei gehe es um Fragen von Zugehörigkeit, um Identität und um Anerkennung in einer Lebensphase, in der junge Muslim:innen am Suchen und am Ausprobieren seien. Ein Teil der Jugendlichen habe eine relativ stabile Persönlichkeit entwickelt, aber es gebe auch einen anderen Teil, an dem man wahrnehmen könne, dass sie sich nicht mehr in diesem Land, in dem sie leben, beheimatet fühlen. Vielleicht gelte dies noch für die Stadt oder die Kommune, in der sie lebten, jedoch nicht unbedingt für Deutschland. Sie meinte, dass diese Tendenzen insgesamt zu denken geben sollten.

Othering und der unabschließbare Diskurs über eine deutsch-muslimische Identität

Allgemein betrachtet ist zahlreichen Studien zu entnehmen, dass die Bereitschaft zum zivilgesellschaftlichem Engagement von zahlreichen Faktoren wie z. B. Sinnhaftigkeit, Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Spaß und Freude, soziale Verantwortung, politische Mitwirkung usw. abhängig ist. In Hinblick auf die Motivation von Mitgliedern der muslimischen Community ist darüber hinaus der Aspekt einer selbstverständlichen deutsch-muslimischen Selbstwahrnehmung zu beachten. Die Selbstwahrnehmung der Person bezieht sich u. a. darauf, ob sie empfindet, dass ihr Platz in der Gesellschaft gewährleistet ist, ob sie sich akzeptiert und anerkannt fühlt, ob sie ein klares Bild von sich hat und welche Relevanz soziale, kulturelle und eventuell religiöse Normalitätserwartungen ihrer Umwelt für sie haben. Auf jeden Fall wurde mit dem Thema Selbstwahrnehmung die Debatte über die Frage einer muslimisch-deutschen Identität ins Gespräch gebracht.

Auf der Basis seiner Erfahrungen in der Arbeit mit Schüler:innen und Studierenden vertrat Herr Turan die These, dass sich in breiten Teilen der muslimischen Jugend so etwas wie eine deutsch-muslimische Identität gefestigt habe. Etwas vage formulierte er, dass eine solche Identität noch nicht im Bewusstsein der Deutschen verankert sei und es auch noch keinen eindeutigen Namen dafür gebe, was auch bedeute, dass eine solche Identität noch nicht gesellschaftlich anerkannt wäre. Er beklagte, dass es in der muslimischen Community keine Menschen geben würde, die den intellektuellen Diskurs über ein solches Selbstkonzept voranbringen könnten. Jugendliche würden zwar alltäglich ein deutsch-muslimisches Narrativ leben, doch solange dieses Narrativ nicht in das allgemeine Bewusstsein eingewandert wäre, würden sich im öffentlichen Diskurs immer wieder die großen Identitätsschubladen öffnen, die jedoch der Situation in einer vielfältigen, pluralen und multireligiösen Gesellschaft nicht gerecht werden könnten. Das werde besonders in Konflikten und im Umfeld von Anschlägen sichtbar, denn die Medien würden fahrlässig versäumen, diese Ereignisse entsprechend zu kontextualisieren. Damit würden sie es den Deutschen sehr leicht machen, Ängste gegenüber Muslim:innen zu entwickeln.

Auf Nachfrage erläuterte Herr Turan, dass er von einem Begriff der Identität als Synthese unterschiedlichster Einflüsse ausgehe. Ihm gehe es um eine Bewusstmachung dieser Prozesse in einer vielfältigen Gesellschaft, denn in dieser könne nicht mehr von einer eindeutig konturierten und klar abgegrenzten Identität ausgegangen werden. Z. B. sei in der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine Vielzahl an Varianten einer deutsch-türkischen-muslimischen Identität anzutreffen. Es gebe sehr religiöse und weniger religiöse Formen der Identität oder Personen, die sich mit deutscher Geistesgeschichte identifizieren und andere, für diese weniger wichtig sei oder andere fänden ihre Identität im Kontext von Vereinen. Er betonte, dass er von einer unglaublichen Vielfalt an Syntheseprodukten ausgehe, die einer komplexen Realität gerecht würden. Ein aufgeklärtes Nationalbewusstsein könne nur auf dem Konzept der Hybridität basieren. Z. B. könne man behaupten, zugleich Türke und Deutscher zu sein, ohne sich komisch zu fühlen.

Dieser Quasi-Verflüssigung des Identitätskonzepts wurde von Frau Trägner entgegengehalten, dass man den Zuschreibungsmechanismen in Gesellschaften nicht entkommen könne. Damit seien immer Prozesse der Ein- oder Ausgrenzung verbunden. Junge Menschen würden immer vor die Wahl gestellt, deutsch oder muslimisch zu sein. Diese Anmutung erlebten sie als Zwang, was dazu führe, sich in der Gesellschaft nicht beheimatet zu fühlen. Herr Turan antwortete mit der Einschätzung, dass die Gesellschaft Muslim:innen kaum kennen würde, sie würden nur die Diskurse über Muslim:innen kennen. Die Gesellschaft wisse nicht, wie vielfältig die muslimische Community sei und dass sie sehr verschiedene Hintergründe habe und keineswegs als homogenes, monolithisches Kollektiv zu betrachten sei. Aus Gesprächen zitierte er die Aussage eines Jugendlichen, dass er sich als Muslim wohler fühlen würde, wenn er nicht daran erinnert werden würde, dass er Muslim ist. Herr Turan meinte, dass religiöse Muslime und auch sehr religiöse, einfach nur ganz normal behandelt werden wollen. Sie würden auch nicht dauernd über Religion sprechen wollen.

Schließlich betrachtete er die Schule im Vergleich zur Moscheegemeinde für die Sozialisation und Identitätsbildung muslimische Kinder- und Jugendliche als weitaus relevanter. Ohne dies explizit zu benennen, schien er für die muslimische Community von einer Art Generationskonflikt auszugehen und den jungen Menschen einen Modernisierungsvorsprung in Hinblick auf die Zukunft der muslimischen Community zuzubilligen.

Ressourcen und Perspektiven

Interessant war, dass sich die abschließende Diskussionsrunde über Ressourcen und Perspektiven weit jenseits der sonst häufig formulierten Forderungen nach finanzieller Förderung, der Forderung einer Unterstützung beim Aufbau von Strukturen und nach der Gleichstellung mit anderen Religionsgemeinschaften bewegte. Den Moscheegemeinden wurde zugesprochen, vor allem über personelle Ressourcen und Expertise zu verfügen, die dazu eingesetzt werden könne, zu helfen, Alltagsfragen von Muslim:innen zu bewältigen. Problematisiert wurde, dass die Kompetenzen junger Muslim:innen, die die Herkunftskultur der Eltern kennen würde und in Deutschland aufgewachsen seien, in den Moscheegemeinden nicht sehr gefragt seien. Man räume ihnen nicht genügend Entscheidungs- und Mitsprachrechte ein, so dass sie sich von den Angeboten der Moscheen nicht angesprochen fühlen würden. Diese Situation wurde als Verschwendung von Ressourcen charakterisiert, da die Diskursfähigkeit, die Ideen und die Kreativität der jungen Muslim:innen in den Moscheegemeinden keinen angemessenen Raum fänden. Einerseits sei beeindruckend, dass gerade jüngere Muslim:innen neue Initiativen bildeten und innovative Organisationen aufbauen würden, sich gleichzeitig jedoch immer mehr von den Moscheevereinen entfernen würden, um sich außerhalb der bestehenden Strukturen zu organisieren.

Als anregende Schlussbemerkung soll die Aussage eines Gesprächsteilnehmers festgehalten werden. Er habe sich für sein Engagement ein Feld gesucht, in das er sich einbringen könne. Dabei sei es ihm nicht darum gegangen, vorrangig etwas für muslimische Kinder zu erreichen, ihm gehe es darum, sich für alle Kinder einzusetzen.

Categories: Aktuelles

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert