Vor 30 Jahren wurde der Brandanschlag auf das Madimak Hotel in Sivas verübt, bei dem 35 Menschen getötet wurden. Bei diesen Menschen handelte es sich um TeilnehmerInnen eines alevitischen Kulturfestivals.
Am 2. Juli 1993 belagerte eine große Menschenmenge das Hotel in Sivas. Tagelang wurde gegen das alevitische Kulturfestival gehetzt. Der türkische Staat und seine Sicherheitsorgane haben tatenlos zugeschaut, wie ein Mob sich vor dem Hotel formiert hat und immer aggressiver wurde.
Dieser Anschlag betrifft uns als Muslime. Denn der Anschlag wurde erst möglich, nicht bloß durch ideologischen Hass, sondern durch religiösen Hass. Er wurde ermöglicht durch das Tun und Unterlassen von Muslimen. Als das Hotel in Flammen stand, waren es sunnitische Muslime, die euphorisch brüllten, dass dies die Flammen des Höllenfeuers seien. Es waren Muslime, die mit religiösen Parolen dieses Pogrom begleiteten und rechtfertigten.
Das Pogrom von Sivas ist kein Einzelfall, sondern einer von vielen Pogromen, die die AlevitInnen bis heute traumatisieren. Es gibt eine jahrhundertelange Geschichte von Gewalt gegen AlevitInnen. Vor Sivas beim Pogrom von Çorum im Jahr 1980. Davor beim Pogrom von Maraş im Jahr 1978. Das waren keine bloß politisch-ideologischen Exzesse, sondern Ausbrüche des Hasses, an denen sich Muslime beteiligten, bei denen Imame in Moscheen Hetzreden gegen AlevitInnen hielten. Bei denen Muslime sich an unzähligen Morden, Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Zerstörungen und Plünderungen beteiligten.
Diese Gewalt entlud sich, weil sie sich als eine religiöse Gruppe verstanden, die sich den AlevitInnen gegenüber als überlegen und höherwertig empfand. Und diese Vorstellung ist bis heute sehr verbreitet.
Bis heute gibt es keine ehrliche Auseinandersetzung und Aufarbeitung der Verfolgung von AlevitInnen. Die Verantwortung, an diese Pogrome zu erinnern, damit sie sich nicht wiederholen, liegt bei uns sunnitischen MuslimInnen. Und wir entziehen uns dieser Verantwortung mit einer hartnäckigen Ignoranz.
Es kann nicht sein, dass jedes Jahr vor allem AlevitInnen auf diese Ungerechtigkeiten hinweisen und an diese Pogrome erinnern.
Vor allem wir als sunnitische Muslime müssen an diese Taten erinnern, darüber reflektieren, wie es zu diesen Verfolgungen und Pogromen kommen konnte, und wie religiöse Fanatiker und Ideologen die Massen mit religiösen Parolen und Hass mobilisieren konnten, um solche grausamen Pogrome zu realisieren. Denn auch heute werden mit ähnlichen, vermeintlich religiös begründeten Überlegenheitsvorstellungen politisch Andersdenkende, religiöse und ethnische Minderheiten entmenschlicht und abgewertet.
Dagegen müssen wie als Muslime eine klare Haltung haben und Gesicht zeigen. Dass bis heute sunnitische Muslime am Tag des Pogroms von Sivas schweigen und das am besten verdrängen würden, ist ein zentrales Problem, worüber wir reden müssen. Nicht nur in der Türkei, sondern gerade hier in Deutschland, weil anti-alevitischer Rassismus auch eine deutsche Realität ist.
Es ist eine Frage der Aufrichtigkeit, dass wir Ungerechtigkeiten, Rassismus, Pogrome und Genozide nicht erst dann thematisieren und daran erinnern, wenn die eigene Gruppe betroffen ist.
Man kann nicht antimuslimischen Rassismus thematisieren, aber zu antialevitischem Rassismus schweigen.
Veranstaltungshinweis: Wie kann uns das Erinnern in einer vielfältigen Gesellschaft gelingen?