Spiel ohne Ball? – Zum Positionspapier „Islamische Theologie in Deutschland“

Frankfurter Zeitschrift für islamisch-theologische Studien

Von Murat Kayman

Mit dem Beitrag „Islamische Theologie in Deutschland. Herausforderungen im Spannungsfeld divergierender Erwartungen“ haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam vor knapp vier Jahren eine Standortbestimmung in Gestalt einer Reflexion über ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Aufbau der islamisch-theologischen Studien im deutschen universitären Bereich vorgenommen und gleichzeitig ihre inhaltliche Positionierung zur akademischen Diskussion deutlich gemacht.

In der Frankfurter Zeitschrift für Islamisch-Theologische Studien ist dieser Beitrag wiederholt besprochen worden. Unterschiedliche muslimische wie nicht-muslimische Stimmen haben zu diesem Positionspapier Stellung genommen und die von den Autoren des Beitrags intendierte Reflexion über die inhaltliche Positionierung kritisch gewürdigt und damit vertieft. Mit dem vorliegenden Text ist der Wunsch verbunden, diese gedankliche Vertiefung fortzusetzen und gleichzeitig durch kritische Stellungnahmen zu wesentlichen Elementen des Ausgangsbeitrages neue Diskussionsschwerpunkte zu setzen.

Die Beschreibung des Ausgangsbeitrages als Reflexion ist keine willkürliche Betitelung. Sie ist Ausdruck der Selbstbeschreibung der Autoren. Dem Leser des Beitrages wird gleich einleitend in den ersten vier Sätzen vier Mal verdeutlicht, dass er es mit einer Reflexion zu tun hat, dass es um “intensivierte Reflexionsprozesse” geht, dass das Positionspapier Erfahrungen reflektiert, dass man vor der programmatischen Aufgabe steht, “Konstituierungsprozesse der islamischen Tradition […] zu reflektieren und […] zu aktualisieren”, dass mit dem Beitrag der Stand der “Reflexion dieses Prozesses” und die daraus “entstandenen Haltungen zu Fragen […] von Positionalität der Islamischen Theologie” zugänglich gemacht werden.

Reflexion über die Positionalität der Islamischen Theologie Bei dieser deutlichen Betonung des reflektiven Ansatzes drängt sich eine erste skeptische Intervention auf: Erfolgt diese Reflexion aus der Quelle eigener Erkenntnis? Oder ist sie beeinflusst von äußeren Wahrnehmungen, wie die im Beitrag näher beschriebenen Spannungsfelder es vermuten lassen? Diese Frage ist nicht trivial und soll gleich zu Beginn dieser Stellungnahme diskutiert werden. Denn es ist für die weitere Entwicklung der islamischen Theologie elementar, ob sie sich aus einem religiösen Selbstverständnis, einer auf dieses Selbstverständnis hin ausgerichteten Wissenschaftlichkeit konstituiert und fortentwickelt oder aber ob die Auseinandersetzung mit “divergierenden Erwartungen” nicht ein so wirkmächtiges Spannungsfeld erzeugt, dass jegliche Entwicklung den unmittelbaren oder mittelbaren Einflüssen von Fremdbestimmung folgt und damit gerade die subjektive Positionalität, die Subjektwerdung von Muslimen im Wissenschaftsdiskurs konterkariert. Damit ist sicher nicht gemeint, dass die Autoren des Positionspapiers einer Fremdbestimmung ihrer Arbeit zustimmen oder diese als Arbeitsbedingung akzeptieren. Gleichwohl darf die Wirkmacht äußerer gesellschaftlicher und politischer Erwartungen an die Bedeutung und den Zweck universitärer islamischer Theologie in ihren vielleicht auch nur mittelbaren Effekten nicht unterschätzt werden.

Gerade in den Ausführungen zu den Fragen, wie eine Wissenschaftlichkeit islamischer Theologie begründet werden kann und in welchem Verhältnis eine solche Theologie zu den Strukturen des kollektiven, des gemeinschaftlich organisierten Islam stehen muss, offenbart sich eine problematische Grenzziehung. In der Frage nach der Bekenntnisgebundenheit islamischer Theologie wird der durch diese Grenzziehung offengelegte Konflikt greifbar. Darauf soll im Weiteren näher eingegangen werden.

Zuvor lohnt sich eine nähere Befassung mit der Betonung des reflektiven Charakters islamischer Theologie. Diese Betonung mag der Tatsache geschuldet sein, dass gerade durch die intensive Reflexion des theologischen Forschungsgegenstandes die kritische Frage nach der Wissenschaftlichkeit jeder Theologie und natürlich auch die der islamischen Theologie im Konkreten beantwortet werden soll. Wie weit kann eine solche Reflexion aber gehen, ohne dass die Theologie Gefahr läuft, nicht mehr Theologie, sondern schlicht islamwissenschaftliche Auseinandersetzung zu sein? Welchen Mehrwert an Erkenntnis, an wissenschaftlicher Forschung muss eine islamische Theologie haben, wenn sie sich nicht lediglich darauf zurückziehen will, von Muslimen betrieben zu werden?

Zwischen Theologie und Islamwissenschaft

Die Autoren des Positionspapiers unterscheiden in diesem Punkt zwischen der sich als externen Ansatz verstehenden Disziplin der Islamwissenschaft und der theologischen Islamforschung mit ihrer “Relevanz des Forschungsgegenstandes und der erzielten Ergebnisse für die Konstituierung von muslimischer Subjektivität”. Dabei darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass eine solche Konstituierung muslimischer Subjektivität sich nicht nur auf das muslimische Individuum bezieht, sondern auch auf das muslimische Kollektiv – oder präziser – auf die muslimischen Kollektive ausstrahlt. In dem Bestreben, sich gegen eine auf vermeintliche Objektivität gestützte und sich damit als wissenschaftlichere Disziplin begreifende nicht-theologische Islamforschung zu behaupten, darf die universitäre islamische Theologie nicht selbst originäre normative Verbindlichkeit beanspruchen. Dies erkennen die Autoren des Positionspapiers auch. Gleichzeitig verkennen oder unterschätzen sie aber die Gefahr, selbst Quelle der Fremdbestimmung zu werden. Denn eine solche Fremdbestimmung wäre es auch, wenn sie die “Grenzen des Sagbaren oder des Erforschbaren” derart in den Bereich der theologischen Lehre ausdehnten, dass die eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse – ohne legitimierende kollektive Rückbindung – als Maßstab der Veränderung religionsgemeinschaftlicher Existenz und Praxis definiert würden.   

Denn wenn nun Reflexion als Mittel der Theologie ständig neue Möglichkeiten der Konstituierung, der Kontextualisierung und der Aktualisierung ihres islamischen Bezugsobjektes freilegt, besteht dann nicht die Gefahr im Sinne Karl Jaspers, “jeden Anfang meiner Wirklichkeit” zu zerstören? Und ist diese Gefahr nicht umso größer, je mehr die Voraussetzungslosigkeit einer Theologie proklamiert und je mehr die Bekenntnisgebundenheit letztlich auch in ihrer Bedeutung als Setzung von Wahrheit und damit auch von theologischer Wirklichkeit abgelehnt wird?

Die islamische Theologie kann aber nicht den Kompass der Wissenschaftlichkeit als Ersatz für den Horizont einer gesetzten Wahrheit anbieten und gleichzeitig den Anspruch, Theologie zu sein, aufrechterhalten. Sie muss und kann nur ein wissenschaftliches Mittel sein, das auf diesen Horizont hinwirkt. Nur dann geht es noch um Theologie.

Reflexion der Reflexion

Heidegger beschreibt in seiner Auseinandersetzung mit Kants Reflexionsbegriff eine Unterscheidung zwischen Reflexion und Reflexion der Reflexion. Dort wo die Reflexion einen Horizont der Gesetztheit – wenn man so will einen Horizont der absoluten Wahrheit – beschreibt, ist die Reflexion der Reflexion “das Verfahren wodurch das im Horizont der Gesetztheit erblickte Sein ausgelegt wird.”

Das Verfahren der Wissenschaftlichkeit kann nicht – will die Wissenschaft Theologie sein und bleiben – den Horizont des gesetzten Wahrheitsanspruchs aushebeln. Und Garant für dieses Verhältnis ist in nicht unerheblichem Maße auch die Bekenntnisgebundenheit und die sie einfordernde Religionsgemeinschaft; auf beide soll im weiteren Verlauf noch näher eingegangen werden. 

Wenn also die Autoren des Positionspapiers darauf hinweisen, dass sie Modelle entwickeln müssen, “die der wissenschaftlichen Wahrheitssuche an einer Universität” dienen und diese Suche als Erkenntnisprozess an einer Universität beschreiben, die “sich als eine permanente ergebnisoffene Suchbewegung” gestaltet, “die Modelle zur Erklärung und Deutung der Welt und der Wirklichkeit entwickelt”, dann kann es sich bei dieser Suche aber nur dann um Theologie handeln, wenn sie auf die Wahrheit Gottes und die seiner Offenbarung ausgerichtet ist. Eine Suchbewegung, die auf einen Widerspruch zwischen Deus und Logos (im philosophischen, nicht im christologischen Sinne verstanden) zielt, kann nicht als Theologie begriffen und betrieben werden.

Vielmehr stellt gerade die Suche, die sich auf eine als wahr gesetzte Erzählung von Gott, insbesondere auf seine Schöpfungsgeschichte, stützt und zu ihr zurückführt, jene Koordinaten zur Verfügung, mit denen auch wissenschaftlich geforscht und um Erkenntnis gerungen werden kann. Nämlich um Erkenntnis, wie die Offenbarung Gottes heute in der Welt wirkt, Muslime in der Welt leitet und welche Ausdrucksformen die Ergebenheit in Gott heute und morgen haben kann.

Die Betonung der Schöpfungsgeschichte ist in diesem Zusammenhang deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie Grundaussagen zum Verhältnis Gott-Mensch trifft und in ihr die geistige Beziehung des Menschen zu Gott in elementarster Weise zum Ausdruck kommt. Damit ist – dies sei in aller Deutlichkeit betont – kein kreationistischer, anti-evolutionärer Ansatz gemeint, sondern die Schilderung der spirituellen Beziehung Adams und Evas als eine exemplarische und gleichzeitig fundamentale Beziehung zu Gott, geprägt durch die elliptische Erfahrung von  Ergebenheit, Erkenntnis, Zweifel, Auflehnung, Trennung, Entfremdung, Sehnsucht und erneuter Ergebenheit und Erkenntnis. Damit birgt dieser Teilaspekt der Offenbarung ein geradezu konstituierendes Potential für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Frage und der Suche nach Gott aus einer muslimischen Perspektive.   

Den Autoren des Positionspapieres ist gerade auch vor diesem Hintergrund zuzustimmen, wenn sie unterstreichen, dass es nicht die Aufgabe der islamischen Theologie sein kann, bestehende Lehren und vorhandenes Wissen bewahrend zu verwalten. Es bleibt aber unvollständig, wenn sie betonen, dass sich die koranische Aufforderung zur Wahrheitssuche auf die Ergründung der Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen bezieht, “nach denen sich das Geschehen in der Welt abspielt”, also auf eine Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Welt hinweist.

Es kann für die islamische Theologie nicht ausreichen, die Deutungsmöglichkeiten der Welt zu ergründen. Ihre Suche muss auch auf Gott in der Welt gerichtet sein, wenn sie nicht nur Islamwissenschaft, betrieben von Muslimen, sein will. Damit ist nicht gesagt, dass das Wirken Gottes im Widerspruch zu den weltlichen Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen steht. Im Gegenteil sind diese vielmehr Manifestationen des göttlichen Wirkens – und in diesen Manifestationen liegt unermessliches Potential für die theologische Forschung.

Bekenntnisbindung als conditio sine qua non universitärer islamischer Theologie

Kernproblem des Positionspapiers ist die Stellungnahme zu der Frage der Bekenntnisbindung. Die Autoren lehnen diese ab und plädieren für eine Bekenntnisorientierung. Dem muss grundsätzlich und auch im inhaltlichen Detail widersprochen werden. Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist der Hinweis auf konzeptionelle Unterschiede zur christlichen Theologie. Das Bekenntnis zum Islam wird auf drei Grundsätzen beruhend skizziert, nämlich auf dem Glauben an die Einheit Gottes, die Offenbarung und das Jenseits. Dieser “Glaubensgrundkonsens” wird als Minimalgrundsatz aller heterogenen islamischen Strömungen definiert und soll als Referenzrahmen der Bekenntnisorientierung herangezogen werden. Eine Bindung zu institutioneller Geistlichkeit sei dem Islam fremd, so dass es keine Institutionen gebe, die sich für “vergleichbare ‘Bindungen’ anbieten würden und etwas Analoges zu orthodoxen Doktrinen mit Gültigkeit im gesamten Spektrum des Islam durchsetzen könnten”.

Als “höchste religiöse Autorität im Islam” werden Koran und Sunna definiert – und eben keine Personen oder institutionelle Autoritäten. Eine Bekenntnisbindung analog zu den christlichen Theologien münde letztlich in eine abzulehnende “Assimilierung von Strukturen”.

Ferner kenne der Islam keine Trennung von miteinander konkurrierenden wissenschaftlichen und kirchlichen Erklärungsmodellen von Welt und Geschichte, so dass eine “Bindung” der universitären Sphäre an die andere religiös-institutionelle Sphäre “zwecks Widerspruchslösung” nicht erforderlich sei.

Theologie als Wissenschaft könne “nur dann erfolgreiche und leistungsfähige Modelle zur Wahrheitssuche bilden, wenn sie in ihrer Forschungs- und Handlungsfreiheit nicht eingeschränkt wird. Mit jeder Form der Bekenntnisbindung aber sind Einschränkungen verbunden, die diesem Anspruch zuwiderlaufen.”

Diese Ausführungen machen deutlich, worin eines der Grundprobleme der Etablierung islamisch-theologischer Studien an deutschen Universitären liegt. Es handelt sich um in verfassungsrechtlicher und faktischer Hinsicht unpräzise Wahrnehmungen und in der Folge ihrer Verarbeitung um unpräzise gedankliche Schlussfolgerungen im Spannungsverhältnis der Wissenschaftsfreiheit zur Religionsfreiheit. Weil es sich hierbei um weit verbreitete und bereits in der praktischen Anwendung fossilierte Fehlannahmen handelt, muss hier im Detail um eine Neujustierung der Debatte gerungen werden. Um es frei nach Karl Kraus zu sagen, dürfen wir hier um der Sache Willen der Sprache nichts vergeben.

Im Konkurrenzverhältnis der Wissenschaftsfreiheit zur Religionsfreiheit ist es irrelevant, was als Glaubensgrundkonsens innerhalb des Islam definiert werden kann. Darauf kommt es verfassungsrechtlich nicht an. Maßstab der Betrachtung ist vielmehr, dass die universitäre Lehre mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften übereinstimmt, wenn es sich um das Feld der Theologie handelt. Nun ist der Islam als Religion nicht gleichzusetzen mit einer Religionsgemeinschaft im Sinne des Grundgesetzes. Darauf also, was “der Islam” als Glaubensgrundsatz formuliert, kommt es nicht an.

Entscheidend ist nicht irgendein Islam, sondern der Islam einer Religionsgemeinschaft

Die Rechtsprechung hat das Kriterium der Tendenzreinheit, oder mit anderen Worten der Homogenität, seit geraumer Zeit aufgegeben. Glaubensangehörige ein und derselben Religion schulden dem Staat keine Rechtfertigung, warum sie sich nicht in einer sondern möglicherweise in vielen Religionsgemeinschaften organisieren. Ebenso steht es den Glaubensangehörigen frei, sich in konfessioneller Hinsicht exklusiv zu organisieren oder eine Religionsgemeinschaft zu bilden, in welcher verwandte Konfessionen der gleichen Religion gemeinsam zu einer Religionsgemeinschaft verbunden sind. Welche Form und inhaltliche Ausrichtung eine Religionsgemeinschaft aufweist, ist im Rahmen ihres verfassungsrechtlich geschützten Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrechts allein ihren Mitgliedern und Entscheidungsgremien überlassen.

Maßstab für den universitären Partner in gemeinsamen Angelegenheiten der akademischen Theologie ist in jedem Fall nicht ein Glaubenskonzept an sich, sondern immer nur und allein seine Manifestation in Gestalt einer Religionsgemeinschaft. Was also mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft noch übereinstimmt und was nicht mehr, kann nicht der Staat selbst entscheiden. Der Staat unseres Grundgesetzes ist in religiösen Fragen nicht nur neutral, er ist schon nicht kompetent. Er kann nicht wissen, was eine “falsche” oder “richtige” Religion ist. Er kann nicht wissen, was zum Grundsatz einer Religionsgemeinschaft gehört. Also darf er auch nicht mittels seiner Hochschulbeamten definieren, welche universitäre theologische Lehre noch mit den Grundsätzen einer Religionsgemeinschaft übereinstimmt und was bereits den Bereich dieser Übereinstimmung verlassen hat.

Also kommt es im Falle der islamischen Theologie überhaupt nicht darauf an, was das Konzept christlicher Lehrautorität ist oder nicht ist. Es kommt allein darauf an, dass alle Partner der islamischen Theologie sich an das Grundgesetz halten und gerade deshalb nur die Religionsgemeinschaften entscheiden können und dürfen, welche Lehre mit ihren Grundsätzen übereinstimmt.

Innerhalb des Islam mag es keine Geistlichkeit geben, die über den Inhalt dogmatischer Glaubenslehre mit Verbindlichkeit für alle Muslime entscheidet. Aber in unserer Rechtsordnung muss es eine Instanz außerhalb des Staates und damit außerhalb des universitären Lehrpersonals geben, die verbindlich darüber entscheidet, was Inhalt der Lehre sein darf und was nicht. Diese Instanz ist in unserer Rechtsordnung die Religionsgemeinschaft. Dieses Ergebnis resultiert nicht aus einem religionsgemeinschaftlichen Autoritätsanspruch, sondern ist die Vorgabe unserer Verfassungsordnung und Ausdruck des in religiösen Lehrfragen zwingend inkompetenten Staates.

Kollision zwischen Religionsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit

In diesem Konkurrenzverhältnis der Religionsfreiheit zur Wissenschaftsfreiheit müssen die kollidierenden Grundrechtsgüter mit den Mitteln der praktischen Konkordanz in einen solchen Ausgleich gebracht werden, dass der Wesenskern beider Rechtsgüter erhalten bleibt und sie nur im Bereich der Rechtsgutsperipherie einander weichen.

Im Angesicht einer solchen Normenkollision muss also eine Lösung gefunden werden, in der beide Grundrechtspositionen so in einen Ausgleich gebracht werden, dass dem Prinzip der Einheit der Verfassung folgend beide Wirklichkeit werden, ohne dass im Zuge einer vorschnellen Güterabwägung etwa die Wissenschaftsfreiheit nur auf Kosten der vollständig zurückgedrängten Religionsfreiheit zur Entfaltung kommt.

Die durch das Positionspapier vorgeschlagene Lösung einer Abkehr von der Bekenntnisbindung hin zu einer Bekenntnisorientierung ist jedoch nicht geeignet, diesen Abwägungsprinzipien zu genügen. Eine im Zuge der praktischen Konkordanz anzustrebende simultane Optimierung beider Grundrechtspositionen kann durch eine Abkehr von der Bekenntnisbindung nicht erreicht werden, weil eine solche Abkehr die Religionsfreiheit in ihrem Wesenskern verletzt, indem sie der Wissenschaftsfreiheit – gerade mit Blick auf die Frage der religiösen Lehre – einen schrankenlosen Vorrang vor der Religionsfreiheit einräumt.

Eine Lösung dieses Konflikts kann nur dadurch erreicht werden, dass mit der Voraussetzung der Bekenntnisbindung im Rahmen universitärer islamischer Theologie, die wesentliche Kompetenz der Religionsgemeinschaften nicht in Frage gestellt wird. Diese wiederum müssen akzeptieren, dass ihre Kompetenz nicht schrankenlos in den Wesenskern der Wissenschaftsfreiheit eingreifen darf. Deshalb ist den Autoren des Positionspapieres ausdrücklich zuzustimmen, wenn sie für sich reklamieren, dass “Theologie als Wissenschaft […] nur dann erfolgreiche und leistungsfähige Modelle zur Wahrheitssuche bilden” kann, “wenn sie in ihrer Forschungs- und Handlungsfreiheit nicht eingeschränkt wird.”

Gleichzeitig muss ihnen entschieden widersprochen werden, wenn sie sodann ausführen: “Mit jeder Form von Bekenntnisbindung aber sind Einschränkungen verbunden, die diesem Anspruch zuwiderlaufen.” Das ist nicht der Fall. Denn ein Aspekt der universitären Theologie taucht als Begriff in der Diskussion um die Bekenntnisbindung im Positionspapier nicht auf, bietet aber gerade den Ansatz zur Lösung dieses Konflikts. Die universitäre Theologie besteht nicht nur aus dem Bereich der Forschung, sondern eben auch der universitären Lehre. Und hier muss die Kompetenz der Religionsgemeinschaften ansetzen, soll es sich bei der islamischen Theologie um eine handeln, die auf dem Boden unserer Verfassung ruht.

Praktische Konkordanz als simultane Optimierung beider Grundrechte

Die Wissenschaftsfreiheit muss dort eingeschränkt und der Religionsfreiheit im universitären Kontext dort Entfaltungsmöglichkeit gegeben werden, wenn es um die Frage geht, was gelehrt wird. Die theologische Forschung genießt den Schutz der Wissenschaftsfreiheit im Sinne dessen, was und wie theologisch er- und geforscht wird. Wer lehrt und was gelehrt wird, kann aber nur durch die Religionsgemeinschaften letztgültig entschieden werden, will man sicherstellen, dass die islamische Theologie mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften übereinstimmt. Denn nur sie, also die Religionsgemeinschaften, haben in unserer Verfassungsordnung die alleinige Kompetenz, darüber zu entscheiden, was die universitäre Lehre ihrer Theologie zum Inhalt haben kann. In einem solchen Verhältnis muss es den Religionsgemeinschaften vorbehalten bleiben, welche Ergebnisse der theologischen Forschung auch Einzug in die theologische Lehre finden. Denn nur sie können bewerten, ob diese Ergebnisse noch mit ihren Grundsätzen übereinstimmen.

Dort, wo das Positionspapier zu Gunsten der individuellen und wissenschaftlichen Freiheit plädiert, muss ihm der Hinweis auf die kollektive Freiheit glaubensgemeinschaftlicher Selbstorganisation vorgehalten werden dürfen. Denn dem Islam ist auch die Einigkeit der Gemeinde immanent. Die individuelle Freiheit tritt stets in ein Verhältnis zum kollektiven Charakter der Religion – wie übrigens auch im Verfassungsrecht das Individualinteresse nicht absolut, sondern im Verhältnis zum Allgemeinwohl Entfaltung findet. Eine solche Einigkeit im kollektiven Sinne kann aber das Individuum nicht selbst deklarieren. Sie braucht stets den Referenzrahmen der Gemeinschaft und entsteht erst durch die Auseinandersetzung mit dem Kollektiv der Glaubensgemeinschaft. Deshalb kann auch im Spannungsverhältnis der Wissenschaftsfreiheit zur Religionsfreiheit sowohl im verfassungsrechtlichen, wie auch im religiösen Sinn niemals das akademisch tätige Individuum darüber befinden, was Lehrinhalt des religiösen Kollektivs sein darf, sein kann oder sein muss.

Anderenfalls läuft die universitäre islamische Theologie Gefahr, eine Rolle einzunehmen, welche die Autorinnen und Autoren des Positionspapiers ja als unbedingt zu meidendes Risiko markieren und von sich weisen – nämlich die Rolle einer universitären Ersatzreligionsgemeinschaft. Dies wäre aber nichts anderes, als die Vergegenständlichung der religiösen Gemeinschaft zum Verfügungs- und Gestaltungsobjekt des forschenden Individuums.

Akute Gefahr der grundrechtswidrigen Fremdbestimmung durch universitäre islamische Theologie

Diese Gefahr des Hochschulbeamten, der sich religiöse Kompetenzen zuspricht, die sich aber bereits sein staatlicher Dienstherr verfassungsrechtlich verbieten muss, ist keine Fiktion, sondern manifestiert sich bereits in den gegenwärtigen “Reformdiskussionen”. Wir haben es in Teilbereichen der islamischen Theologie mit dem Phänomen zu tun, dass die universitäre Lehre eine aktive Veränderung der sie verfassungsrechtlich legitimierenden Religionsgemeinschaften intendiert – ohne dass dieser massive Bruch mit den Fundamenten unserer Grundrechtsordnung weiter auffällt oder gar Widerspruch hervorruft. Dies allein verdeutlicht bereits, dass in den aktuellen Entwicklungen eine faktische Abkehr von der verfassungsrechtlich zwingend vorgeschriebenen Bekenntnisbindung erfolgt. Das sind keine guten Nachrichten, wenn der Anspruch auf Subjektwerdung islamischer Theologie tatsächlich erhoben wird. Denn die Veränderung theologischer Lehre gegen den Willen der Religionsgemeinschaften ist genau das Gegenteil von Subjektwerdung.

Denn was, wenn nicht Fremdbestimmung, ist es, in der islamischen Theologie nicht das Sagbare über Gott in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften zu erforschen und zu lehren, sondern die eigenen universitären Auffassungen und Ergebnisse als Maßstab der Veränderung religionsgemeinschaftlicher Existenz zu postulieren?

Soll die islamische Theologie und in ihrer Folge die theologische Prägung der Muslime in Deutschland erfolgreich sein, muss sie aufhören, den Weg der fremdbestimmten Gestaltung theologischer Lehre durch Staat und Hochschule oder durch Einzelpersonen zu beschreiten. Vielmehr muss in der Bekenntnisbindung das Korrektiv erblickt werden, mit welchem die Religionsgemeinschaften dem für unsere Rechts- und Gesellschaftsordnung essentiellen Grundsatz des Ausgleichs und des Gleichgewichts unterschiedlicher Rechtspositionen erst Wirksamkeit verleihen. 

Die grundsätzliche Betrachtung dieses Verhältnisses von Universität und Religionsgemeinschaften darf nicht unter dem Gesichtspunkt kurz- oder mittelfristiger praktischer Schwierigkeiten erfolgen. Zweifellos stellt sich die Frage, ob die muslimischen Dachverbände nur langsam und manchmal auch sehr schwerfällig in die ihnen durch unser Grundgesetz ermöglichte Rolle als Religionsgemeinschaften hineinwachsen? Oder ob diese Schwerfälligkeit und die Rückschritte der letzten Jahre nicht vielmehr Ausdruck eines strukturellen Unvermögens sind? Jedenfalls werden die Dachverbände den Herausforderungen ihrer verfassungsrechtlichen Funktion und den gesellschaftlichen Erwartungen, die mit dem Status einer Religionsgemeinschaft verknüpft sind, momentan nicht gerecht. Wollen die muslimischen Dachverbände ihre Rolle als Religionsgemeinschaften tatsächlich ausfüllen, müssen sie sich in Zukunft im faktischen und auch im rechtlichen Sinne kompetenter aufstellen. Das wird Zeit brauchen, ist aber kein unüberwindliches Hindernis und sollte erst recht nicht als Ausgangspunkt grundsätzlicher Bewertungen der gemeinsamen verfassungsrechtlichen Aufgaben missverstanden werden. Denn wir dürfen unsere verfassungsrechtlichen Ansprüche nicht im Konflikt mit tatsächlichen Schwierigkeiten relativieren. Vielmehr müssen wir den tatsächlichen Verhältnissen den Druck des öffentlichen Diskurses solange zumuten, bis jene, die Religionsgemeinschaften sein wollen, auch bereit sind, die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen eines solchen Status zu erfüllen und zu verinnerlichen.

Vor diesem Hintergrund geht die Betrachtung des Positionspapiers aber fehl, wenn darauf fokussiert wird, dass es keine Instanz gebe, die Lehrmeinungen im gesamten Spektrum des Islam durchsetzen könnte. Darauf kommt es unserer Verfassung nicht an. Eine Kompetenz zur Durchsetzung von Lehrmeinungen müssen Religionsgemeinschaften nur innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft aufweisen. Die Grundsätze einer Religionsgemeinschaft müssen nicht zu solchen “des Islam” erwachsen, um von dem universitären Lehrpersonal als Glaubensgrundkonsens beachtet zu werden. Wenn ein solches System der verteilten Kompetenzen und des Ausgleichs mit den Mitteln der praktischen Konkordanz tatsächlich zu “Assimilierung von Strukturen […], die dem Islam fremd sind” führt, dürfte in letzter      Konsequenz keine islamische Theologie an Universitäten betrieben werden.

Denn eine universitäre Lehre, die nicht nur an den Prinzipien unserer Verfassung vorbei sondern sogar ausdrücklich gegen diese Grundsätze betrieben wird, würde Muslime und ihre Religionsgemeinschaften zu Institutionen und Verfassungsbürgern zweiter Klasse degradieren. Eine Subjektwerdung islamischer Theologie kann durch ihr Gegenteil, nämlich die Zurückdrängung des Grundrechtsschutzes für muslimische Religionsgemeinschaften und letztlich ihre Behandlung als Verfügungsobjekt von Staat und Universität, nicht erreicht werden: Eine Gleichstellung ohne Bekenntnisbindung gibt es nicht.

Kein Spiel ohne Ball

Der 1960er-Jahre Kultfilm “Blow-Up” von Michelangelo Antonioni endet mit einem pantomimischen Tennisspiel. Die Hauptfigur des Films, ein Fotograf, steht in einem Londoner Park vor einem eingezäunten Tennisplatz und beobachtet zwei Figuren, die pantomimisch – ohne Schläger und Ball – einen Ballwechsel inszenieren. Sie schlagen auf, sie rennen über den Platz, erreichen knapp den unsichtbaren Ball und schlagen ihn über das Netz zum Gegenspieler. Eine Gruppe stummer Zuschauer folgt dem Spiel, beobachtet das Hin und Her des nicht vorhandenen Balles. Der Fotograf beginnt selbst mit den Augen dem Ballwechsel zu folgen. Plötzlich deutet einer der Spieler einen kraftvollen Schlag an und die Kamera folgt dem unsichtbaren Ball beim Flug über den Zaun. Einer der Spieler fordert den Fotografen mit einer Geste auf, den nicht existenten Ball zurück aufs Spielfeld zu werfen. Nach kurzem Zögern hebt der Fotograf den “Ball” auf und wirft ihn mit einer ausholenden Bewegung zurück aufs Spielfeld. Die Kamera fährt zurück, bis der Fotograf einsam auf der Rasenfläche zurückbleibt. In der Ferne sind leise die Geräusche eines Ballwechsels zu hören.

Vor einigen Jahren hat Rüdiger Safranski diese Szene beschrieben, um deutlich zu machen, dass der “heißen Religion” des Islam eine säkulare Zivilreligion mit weltlichen heiligen Tabus entgegengehalten werden muss, dass diese Zivilreligion zu spielen beginnen muss, auch wenn sie weiß, dass es keinen Ball gibt. Das kann aber nicht der Weg der islamischen Theologie sein. Allein aus dem Selbstverständnis des Islam heraus, aus der Bedeutung der islamischen Schöpfungsgeschichte heraus, kann ein solcher Weg nicht eingeschlagen werden, wenn er mit dem Anspruch der Theologie beschritten wird. Adam ist aus islamischer Sicht nicht für eine Sünde aus dem Paradies vertrieben worden, deren Makel ewig und in jeder Nachfolgegeneration an ihm und seinen Nachkommen haftet. Adam sucht aus islamischer Sicht keine Erlösung von der Welt. Gott hat ihm vergeben und ihn auf die Erde gesandt, auf dass er kraft seines Willens, seiner Erkenntnisfähigkeit, seines Verstandes und trotz dieser Distanz, dieser Entfernung und trotz seiner Entfremdung und seiner Fähigkeit zum Zweifel und zur Auflehnung dennoch Gott erkennen und sich ihm zuwenden, sich ihm ergeben möge. Deshalb muss die islamische Theologie diese Wahrheit, diese Wirklichkeit Gottes stets auch in ihrer universitären Lehre verfolgen und voraussetzen. Das wird ihr aber nur dann gelingen, wenn sie in ihrer Lehre die Überzeugung von dieser Wirklichkeit bewahren und tradieren kann. Und dafür, nicht als Reglementierung, nicht als Bevormundung, sondern als stete Erinnerung an die Wirklichkeit Gottes braucht sie die Bekenntnisgebundenheit und damit die Religionsgemeinschaften. Ein Spiel ohne Ball wäre keine islamische Theologie mehr.

Murat Kayman ist Gründungs- und Beiratsmitglied der Alhambra Gesellschaft e.V. Er ist Jurist und betreibt den Blog www.murat-kayman.de.

Categories: Resonanzraum

1 thoughts on “Spiel ohne Ball? – Zum Positionspapier „Islamische Theologie in Deutschland“

  1. Eine hervorragende Analyse der Beziehungen zwischen universitärer Islamischer Theologie und den Religionsgemeinschaften auf der Basis des deutschen Grundgesetzes.

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