Impulsvortrag unserer Vorsitzenden Hilal Sezgin-Just zur Eröffnung des Muslimischen Quartetts mit Prof. Dr. Thomas Bauer in Düsseldorf mit dem Titel „Der eine Islam?“
Das Wort „Tradition“ ist im modernen deutschen Sprachgebrauch ein ziemlich unglücklicher Begriff. So ganz genau weiß man nicht, was er bedeuten soll.
Zum einem klingt Tradition nach Folklore. Das Oktoberfest und der Karneval haben hierzulande Tradition, vielleicht noch Bier und Weißwürste.
Nicht nur Dr. Oetker weiß, was Tradition ist und wie man sie verkauft. Jedes zweite Unternehmen scheint sich heutzutage mit der Aura der Tradition schmücken zu wollen. Auf die deutsche Seele scheint es eine ungeheuer beruhigende Wirkung zu haben, wenn irgendein Produkt eine „lange Tradition“ hat. Wobei es sich dann meistens um Schnellkochgerichte handelt, die vor wenigen Jahrzehnten der Menschheit noch gänzlich unbekannt waren.
Einen ähnlichen Eindruck machen auf mich manchmal all jene Gruppe, die heute den Islam zu einer verengten Ideologie machen. Also all jene, die häufig unter dem problematischen Begriff „Islamisten“ gefasst werden.
Sie wirken nicht selten wie ein verpacktes Fertiggericht, auf dem ganz groß das Siegel „Traditionell“ klebt. Was man bekommt, ist ein industriell abgepacktes Einheitsessen mit meist dürftigem Geschmack. Aber die Verpackung suggeriert einem, dass man gerade in den Genuss von authentischem traditionellem Essen kommt.
Genauso versuchen es die diversen ideologischen Strömungen, die die innere Vielfalt der islamischen Tradition leugnen und am Ende ein wenig genießbares Produkt anbieten.
Wobei wir bei der zweiten Assoziation wären, die man gemeinhin mit dem Begriff „Tradition“ hat.
Wenn man heutzutage als „Traditionalist“ bezeichnet wird, ist das meist nicht als Kompliment gemeint. Entweder gilt man als verstockt und unmodern, im Zweifelsfall als ideologisch und gefährlich.
Aber tragen diese Leute zurecht den Begriff Tradition? Was bedeutet eigentlich Tradition?
Ursprünglich kommt das Wort vom lateinischen Verb tradere, was so viel heißt wie hinübergeben oder weitergeben. Das heißt die Weitergabe von etwas, von dem man glaubt, dass es sich zu erhalten lohnt.
In gewisser Hinsicht sind Religionen also immer ein Stück weit traditionell. Wir als Muslime glauben, dass am Anfang unserer Religion eine göttliche Quelle steht, eine Offenbarung Gottes, die es sich zu bewahren lohnt.
Wir könnten ja auch in jeder Generation aufs Neue anfangen und bei Gott anklopfen. Aber wir erkennen den besonderen Wert der Offenbarung Gottes vor hunderten von Jahren und stellen uns deswegen bewusst in diese Tradition.
Jedoch ging es dabei nie um Vereinheitlichung. Das Ziel ist nicht die Tradition selbst, sondern das Ziel ist Gott. Die Tradition wäre somit Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck.
In einer Aussage unseres Propheten, die so ähnlich auch in der Bibel steht, heißt es: „Die Wege zu Gott sind so zahlreich wie die Atemzüge der Menschheit.“
Wie hätten Sie diesen Spruch spontan eingeordnet?
Er könnte aus einer der neueren esoterischen Bewegungen unserer Zeit stammen, zugleich spiegelt das Zitat scheinbar einen postmodernen, säkularen Zeitgeist wieder.
Nach dem Motto: Alles ist vielfältig, Religiosität Privatsache, die Wahrheit relativ.
Jedoch handelt es sich hierbei um einen zentralen Lehrsatz des Islam, wie er vor allem in der mystischen Tradition für Jahrhunderte tradiert und gelebt wurde.
Wird man aber dieser spirituellen Wahrheit gerecht, wenn man sie in die Kategorien unserer entzauberten, säkularen Kultur zwängt? Steckt nicht am Ende vielleicht doch mehr dahinter, als unsere heutige Vorliebe für alles Diverse und Plurale?
Darauf gibt es sicherlich ganz verschiedene Antworten. Vielleicht können wir einige gleich auf dem Podium austauschen.
Ich persönlich bin der Meinung, dass man die Vielfalt in der islamischen Tradition nicht zu einem plakativen Spruch machen sollte, der lediglich in den heutigen Mainstream und Zeitgeist passt.
Ich denke, dass der klassische muslimische Sinn für Vielfalt sein Gegenstück hat in einer tiefen Gewissheit darüber, was die einzige absolute Wahrheit ist, nämlich Gott. Spirituell gesehen ist er der Angelpunkt alles Realen, Al-Haqq, die Wahrheit selbst.
Gott ist absolut und gerade deswegen sind die Wege zu ihm relativ.
Anders gesagt: Muslime waren traditionell nicht trotz ihres Glaubens, sondern gerade wegen ihm relativ vielfaltsoffen. Oder, in den Worten von Thomas Bauer: ambiguitätstolerant.
Die islamische Tradition hat jahrhundertelang nach diesem Prinzip gelebt. Die muslimischen Gelehrten haben nach der Wahrheit in Gottes Offenbarung gesucht – und erkannt, dass wir uns ihr in vielen Dingen lediglich annähern können.
Die Wahrheit gänzlich erfassen zu wollen, würde – so der Geist der Tradition – der Anmaßung gleichkommen, Gott zu umfassen. Aber nicht wir umfassen die Wahrheit, die Wahrheit umfasst uns.
Dementsprechend konnte man Meinungsverschiedenheiten weitgehend pragmatisch angehen, nicht ideologisch.
Was können wir nun aus dieser Tradition konkret für unser heutiges Leben in der Gesellschaft lernen? Das soll eine der Hauptfragen auf dem Podium werden.
Ein Diskussionspunkt könnte um die Grenzen der Vielfaltsoffenheit kreisen. Trotz der vielfältigen Wege zu Gott, stellt der Islam einen Rahmen dar, innerhalb dessen man sich als Muslim bewegt.
Der indonesische Islam ist definitiv ein anderer als der türkische Islam aber trotzdem gibt es einen gemeinsamen Kern. Viele würden vielleicht sagen: Dieser Kern ist Koran und Sunna, das Buch Gottes und die vorbildhafte Überlieferung des Propheten.
Auch wenn es immer verschiedene Wege der Interpretation gab, so haben die gemeinsamen Quellen stets eine Richtung vorgegeben. Genauso sind die täglichen Gebete, wie verschieden sie auch abgehalten werden mögen, immer gen Mekka gerichtet.
Aber reicht das? Ist „Koran und Sunna“ nicht mitunter auch der Slogan der pseudotraditionellen Vereinfacher, also der Köche der Schnellkochgerichte unter den heutigen Strömungen?
Verbindet uns als Muslime nicht auch noch darüber hinaus ein Geist der Tradition, eine gemeinsame jahrhundertelange Geschichte? Eine weitere Frage fürs Podium.
In heutigen Diskursen wird an diese Frage zudem häufig mit Konzepten aus der postmodernen Philosophiekritik herangegangen. Deren Antriebskraft war ja gerade, die Eindeutigkeitsobsessionen des modernen Denkens zu überwinden.
In diesem Kontext erscheint ein Pluralismus von Kulturen und Lebensformen als neues Ideal und nicht mehr als Mangel.
Im Zuge dieses Zeitgeistes sollte man vielleicht auch mal die unbequeme Frage aufwerfen:
Ist das Bedürfnis nach Ordnung und Eindeutigkeit nicht auch etwas genuin Menschliches? Brauchen wir nicht gerade in der heutigen Zeit einen stärkeren gemeinsamen Rahmen, der uns als muslimische Gemeinschaft, als Umma, zusammenhält?
Kann zu viel Vielfalt nicht auch zu Zersplitterung und Willkür führen?
Während wir eigentlich vor allem Einheit, Zusammenhalt und Gemeinschaft bräuchten?
An diesen Fragen werden sich sicherlich die einen oder anderen Geister scheiden.
Am heutigen Abend wird es um diese und ähnliche Fragen gehen. Ich freue mich auf eine fruchtbare, anregende Diskussion und wünsche uns allen einen schönen Abend.
Finde ich toll ?
Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.