Vor zwei Wochen wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke erschossen. Die Ermittler gehen nun von einem rechtsextremistischen Hintergrund aus. Der Regierungspräsident war in der Vergangenheit wegen seiner besonnenen Haltung zu Flüchtlingen in den sozialen Medien massiv bedroht worden, ohne dass diese Drohungen ernst genommen wurden oder zu einer offenen Solidarität geführt hätten. Dieser tragische Vorfall und die Tatsache, dass nicht schon die Bedrohungen gegen Lübcke für einen Aufschrei in unserer Gesellschaft gesorgt haben. Dass diese erst nach dem Mord vielen bekannt wurde, sagt viel aus über unseren gesellschaftlichen Umgang mit solchen Fällen. Wie kann es sein, dass wir uns über die massiven Drohungen erst jetzt aufregen und erschüttert zeigen, nachdem Lübcke erschossen worden ist?
Die Radikalisierung rechtsextremistischer Akteure passiert nicht im luftleeren Raum. Seit Jahren entwickeln sich in den sozialen Netzwerken, auf Internetseiten wie z.B. PI-News und in den Netzwerken von Pegida, AfD und identitären Gruppierungen eine hassgeladene Stimmung, die nicht nur bei Worten bleibt, sondern längst auch Taten folgen lässt.
Der Verdächtige Stephan E. im Fall Lübcke ist den Sicherheitsbehörden schon seit langen Jahren bekannt. So soll er bereits 1993 im Alter von 20 Jahren mit einer Rohrbombe eine Asylbewerberunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenroth angegriffen haben. Und bereits im Jahr 2015 haben die LINKE in einem Beweisantrag und bei der Zeugenbefragung im NSU-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags namentlich nach Stephan E. gefragt, weil er als besonders militanter und gefährlicher Neonazi aufgefallen war.
Die Sicherheitsbehörden und die verantwortlichen Politiker sind nun in der Bringschuld. Wenn es sich bewahrheitet, dass Stephan E. für den Mord an Lübcke verantwortlich ist, müssen sie erklären, wie es dazu kommen konnte, dass ein gefährlicher Rechtsextremist, der bereits mehrfach im Visier der Sicherheitsbehörden war, unbemerkt die Tat vollziehen konnte? Und überhaupt: Wird der Rechtsterrorismus, der seit langen Jahren eine große Gefahr für unser friedliches Zusammenleben darstellt, effektiv und wirksam bekämpft? Und vor allem: Welche Lehren haben die Sicherheitsbehörden vom Versagen im NSU-Komplex gezogen?
Es war von Anfang an das falsche Signal an die rechtsextremistische Szene, dass sich die Generalbundesanwaltschaft im NSU-Komplex nur auf das sogenannte NSU-Trio konzentriert hat. Wie der Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler gestern zu Recht betonte: „Der NSU ist nicht bloß ein „Trio“. Der NSU ist ein großes Netzwerk von Nazis, von denen die allermeisten auf freiem Fuß sind. Das Gerede vom „isolierten Trio“ ist ein Versuch von Teilen des Sicherheitsapparates, die Gefahr zu bagatellisieren.“
Der NSU hätte eigentlich schon der Grund sein müssen, unsere Augen zu öffnen, und die Gefahr des Rechtsextremismus endlich als große Gefahr auch wahrzunehmen, um dann die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Da geht es nicht nur um die nötigen Konsequenzen für die Sicherheitsbehörden und die Politik, sondern auch die nötigen Konsequenzen für die Öffentlichkeit und vor allem für die Medien. Denn wie beim NSU fällt auch im Fall Lübcke auf, dass die Medien zurückhaltend agieren. Bei religiös-extremistischen Anschlägen sind die Talkshows in der Lage sehr schnell zu reagieren, die Zusammensetzung und das Thema zu ändern oder kurzfristig Brennpunktsendungen einzubauen. Zur großen Gefahr durch den Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus herrscht allerdings eine gewisse Sprachlosigkeit und Zurückhaltung.
Diese Zurückhaltung und teilweise Relativierung real existierender Gefahren sind das falsche Signal. Eine Beschwichtigung gewalttätiger rechtsextremistischer Netzwerke muss ein Ende finden. Wir brauchen nicht einen Ruf nach mehr Überwachung oder die reflexhafte Einschränkung von Bürgerrechten, sondern sowohl die Behörden und Politik als auch die Medien und die Öffentlichkeit müssen die Handlungsspielräume gefährlicher rechtsextremer Netzwerke und ihren ideologischen Stichwortgebern einschränken. Da kann sich die Zivilgesellschaft insgesamt nicht der Verantwortung entziehen.