Die etablierten Moscheegemeinden wandeln sich. Daneben gibt es neu entstehende soziale Einrichtungen und Träger, deren Akteure zwar eine religiöse Motivation haben, ohne jedoch Religionsgemeinschaft oder religiöser Verein sein zu wollen. – Ein Beitrag von Engin Karahan (erschienen in Herder Korrespondenz 72. Jahrgang (2018), Heft 9, S. 16-18)
Die muslimische Verbandslandschaft in Deutschland steht aktuell unfreiwillig vor dem größten Umbruch seit ihrem Entstehen vor fast 60 Jahren und den Familienzusammenführungen in den Achtzigerjahren. Mit dem Nachholen von Ehepartnern und Kindern entwickelten sich viele der provisorischen muslimischen Gebetsräume zu Moscheen mit einem breiten Angebot für die ganze Familie weiter. Damit beschränkten sie sich nicht mehr darauf, nur Orte für die Freitags- und Feiertagsgebete zu sein. Es bildete sich eine religiöse Infrastruktur heraus, die mit der Zeit regionale und zentrale Strukturen und unterschiedliche Tätigkeitsbereiche ausdifferenzierte. Trotz aller Weiterentwicklung und Institutionalisierung blieb das Provisorische der Gründerzeit, sowohl in der Struktur als auch im institutionellen Denken, ein bestimmender Faktor.
In den letzten zehn Jahren gab es zahlreiche Initiativen, diese „Provisorien“ zu vollwertigen Religionsgemeinschaften weiterzuentwickeln. Das Ringen um Anerkennung als Träger des islamischen Religionsunterrichts war ein geeigneter Aushandlungsprozess zwischen den Ländern und den muslimischen Verbänden, in dem sich sowohl die Gemeinschaften als auch Kultus- und Schulministerien auf Kompromisse eingelassen haben. Dieser Prozess hat mit der Entscheidung des OVG Münster zur Klage von Islamrat und dem Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) auf Anerkennung als Träger des Religionsunterrichts und implizit als Religionsgemeinschaften einen heftigen Dämpfer erhalten (Urteil vom 9. November 2017, Az. 19 A 997/02). Das Gericht stufte die klagenden Gemeinschaften nur als religiöse Vereine ein, nicht als Religionsgemeinschaften.
Bisher keine belastbaren muslimischen Strukturen
Das Münsteraner Urteil schränkt zwar die Handlungsfähigkeit der Landesregierungen ein, auf muslimischer Seite beendet es allerdings den letzten Versuch, gemeinsame und belastbare muslimische Strukturen zu schaffen. Noch weit vor der ersten Deutschen Islamkonferenz (DIK) wurden Anfang 2005 in Seevetal bei Hamburg die ersten Fundamente für den späteren „Koordinationsrat der Muslime“ (KRM) gelegt. Zusammengekommen waren fast alle muslimischen Dachverbände, um ein weiteres Mal die „Einheit der Muslime“ in Deutschland zu versuchen – herausgekommen ist am Ende jedoch nur ein Koordinierungsgremium. In einem Konzeptpapier-Entwurf, der es nie zu einer Verabschiedung gebracht hat, sind die ursprünglichen Ziele noch visionär: „Deshalb sind die Muslime und die muslimischen Institutionen in der besonderen Verpflichtung, eine Organisationsform zu schaffen, die mit ihrem Selbstverständnis in Einklang steht und den Bedürfnissen der Gesellschaft Rechnung trägt, bevor den Muslimen Strukturen aufgezwungen werden, die sie dann nur sehr schwer beeinflussen können.“
Die Schaffung einer solchen Struktur blieb aus, es entstand der KRM als oberstes Koordinierungs- und Austauschgremium auf Bundesebene. Der KRM dürfte seinen Erfolg der ersten Jahre gerade auch der Islamkonferenz verdanken. Sie hat den Diskurs um den Islam und die Muslime in Deutschland bewegt und geprägt. Sie war eine Herausforderung für die muslimischen Verbände, die sich zwar an den stellenweise sehr gerahmten Diskursen abarbeiteten, daran aber inhaltlich auch wuchsen.
Die dritte Phase der Islamkonferenz leitete mit Blick auf die ersten beiden Runden einen Paradigmenwechsel ein: Fördern und Fordern schien nun die ungeschriebene Devise zu sein, statt des bisherigen ausschließlichen Forderns. Das Thema der Etablierung einer muslimischen Wohlfahrtsstruktur, vergleichbar mit Caritas oder Diakonie, kam auf die Tagesordnung, Bedarfe wurden ermittelt, Bestandsaufnahmen aufgestellt. Unter den etablierten Akteuren der Wohlfahrtsarbeit sollte auch der muslimische Wohlfahrtsverband seinen Platz einnehmen. Neben Vernetzung und struktureller Unterstützung wurden Förderprogramme wie „Flucht und Islam“ aufgestellt, um einerseits den gestiegenen Bedarf an muslimischer Flüchtlingshilfe abzudecken und andererseits die praktische Arbeit voranzutreiben.
Das Resultat ist am Ende eher bescheiden. Auf der lokalen Gemeindeebene entstanden zwar viele ehrenamtliche Flüchtlingsprojekte, aber kaum eines konnte aus dem Fonds unterstützt werden. Nicht weil dieser nicht zahlte – die bereitstehenden Gelder wurden erst gar nicht abgerufen. Die Zentralen, die für die Erstellung beziehungsweise zumindest Weiterleitung der Anträge ihrer Gemeinden verantwortlich waren, erwiesen sich als Engstelle. Diejenigen, die soziale Arbeit anbieten wollten, und diejenigen, die dies fördern wollten, sie fanden nicht zueinander. Das Angebot der Öffnung der Wohlfahrtsstrukturen hatte für den Anspruch der an der Islamkonferenz teilnehmenden Verbände fatale Folgen. Das Mantra „Wir könnten, wenn man uns lassen würde“, erwies sich als nicht mehr haltbar.
Vorausgegangen war dieser Entwicklung ein Substanzverlust der Verbände kurz nach Beginn des zweiten Jahrzehnts der Jahre nach 2000. Der global neu ausbrechende Nationalismus schlug sich in den Verbänden der mehrheitlich türkischstämmigen Gemeinschaften als eine immer dominanter werdende Re-Ethnisierung nieder. Innerhalb der Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) verloren die neuen Landesverbände ihre Kompetenzen wieder an die Religionsattachés in den Konsulaten. An die Spitze der größten nicht-staatlichen Gemeinschaft, der „Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş“ (IGMG), kamen Imame, die mit dem bisherigen Öffnungskurs ihrer Vorgänger nicht viel anfangen konnten. In beiden Fällen fühlten sich die Verbandsspitzen innerhalb der türkischen Community als ausreichend wirkmächtig. Im Kontext der deutschen Öffentlichkeit führten ihre sprachlichen und habituellen Defizite jedoch zu Ohnmachts- und Rückzugstendenzen.
Fehlende Ansprechpartner aufseiten der muslimischen Verbände
Dabei bräuchte es aktiver Stimmen im gesamtgesellschaftlichen Diskurs, die mit Positionen aus unterschiedlichen muslimischen Perspektiven in den Debatten mitwirken. Das Fehlen der muslimischen Gemeinschaften als wichtige Stimmen im Diskurs fällt insbesondere an der muslimischen Basis auf – es fehlt an institutionellen Stimmen, die sich glaubhaft stark machen für die Partizipation in der Gesellschaft. Vor zehn Jahren hätte die Klage darüber, dass bei relevanten Themen muslimische Akteure erst gar nicht gefragt werden, wohl noch eine Berechtigung gehabt. In den letzten Jahren sind es Pressevertreter und an Kooperationen interessierte Vertreter der Zivilgesellschaft, die über fehlende Ansprechpartner aufseiten der muslimischen Verbände klagen.
Diese Entwicklung könnte man ignorieren, würden die muslimischen Gemeinschaften nicht zu den größten zivilgesellschaftlichen Akteuren gehören, die bisher von Muslimen in Deutschland aufgebaut worden sind. Dieser Rückläufigkeit auf Bundesebene stand die Entwicklung an der Basis diametral entgegen. Während sich die Zentralen immer mehr aus dem öffentlichen Diskurs und ihrem Gestaltungsanspruch entfernten, nahmen viele Moscheegemeinden auf lokaler Ebene die einsetzenden Flüchtlingsbewegungen zum Anlass, ihre sozialen Angebote über die Gemeindegrenzen hinweg zu entfalten. Viele Moscheegemeinden brachten sich in der Flüchtlingsarbeit ein, kooperierten mit Anbietern der etablierten Wohlfahrtsverbände oder bauten eigene Angebote auf. Im Gegensatz zur Bundesebene findet man auf der regionalen Ebene, zum Beispiel in Berlin und Hamburg, sehr aktive Gemeinschaften, die zum Beispiel in der Antidiskriminierungsarbeit die „Großen“ längst hinter sich gelassen haben.
In manchen Gemeinden kamen bis zu 25 Prozent Neuzugänge zu den Freitagsgebeten hinzu. Die Moscheen mussten die Flüchtlinge nicht erst aufsuchen, sie hatten sie bereits im eigenen Haus. Im Unterschied zu anderen Akteuren geschah diese Arbeit auf rein ehrenamtlicher Basis. Von den Spitzenverbänden konnten zu Beginn DITIB und ZMD, zum Ende hin nur noch der ZMD öffentlich wahrnehmbare und professionelle Angebote aufbauen. Den Gemeinden fehlte oftmals jegliche konzeptionelle Unterstützung vonseiten der Dachverbände. Auf sich gestellt war das neue soziale Engagement nicht in allen Gemeinden oder zumindest nicht bei allen Gemeindevorständen oder -mitgliedern willkommen.
Diese fehlende Unterstützung und Anerkennung von sozialer Arbeit vor Ort führt mittlerweile dazu, dass Gemeinden immer häufiger fähiges Personal verlieren. Wer innerhalb der Gemeinden mit seinem Engagement nicht mehr weiter kommt, gründet mit Gleichgesinnten einen entsprechenden Verein. „Wir hatten genug davon, für Selbstverständlichkeiten beim Moscheevorstand, beim Frauenvorstand und dann auch noch im Regionalverband betteln zu müssen“, beschreibt eine Mitgründerin eines muslimischen Jugendvereins ihre Beweggründe. „Jetzt machen wir das so, wie wir es für richtig halten“.
Dabei findet keine Abwendung von der Moscheegemeinde statt. Diese Akteure sehen ihre Aktivitäten nicht als Alternative zur Moschee, wollen keinen eigenen Gebetsraum oder Ähnliches in ihren neu geschaffenen Institutionen einrichten. Sie bleiben vielmehr dem religiösen Milieu verbunden, nehmen es aber nicht mehr hin, dass ihnen der Wirkungsraum auf wenige starre Betätigungsformen in den Gemeinden beschränkt bleibt. Zum Freitagsgebet und zu anderen religiösen Veranstaltungen gehen sie weiter in ihre Moschee. Für ihre soziale Arbeit schaffen sie sich außerhalb eigenständige Institutionen, ohne sich von der Moschee zu entfremden.
Die Gemeinden verlieren mit diesen jungen Menschen nicht nur Akteure, die sie – ob ehren- oder hauptamtlich – in Zukunft bei möglichen Aktivitäten im sozialen Bereich brauchen werden. Sie verlieren qualifiziertes Führungspersonal für die Gemeinde. Die Moscheevorstände bluten damit nicht nur personell, sondern auch intellektuell aus. Es fehlt an Ideen für die Zukunftsplanung, für notwendige strukturelle und inhaltliche Reformen vor Ort. Der Sozialraum Moschee büßt damit immer mehr das Soziale ein und wird damit zum reinen Träger- und Erhaltungsverein für den Gebetsraum.
Bei den neu entstehenden sozialen Einrichtungen finden wir dagegen Vereine, deren Akteure sich aus einer religiösen Motivation heraus engagieren, ohne Religionsgemeinschaft oder religiöser Verein sein zu wollen. Eine strukturelle Anbindung an die bestehenden Gemeinschaften ist weder aufseiten der muslimischen Religionsgemeinschaften vorgesehen noch wird sie von diesen Akteuren angestrebt. Die Existenz des „Islamischen Kompetenzzentrums für Wohlfahrtswesen e. V.“, gegründet vor zwei Jahren von sieben muslimischen Spitzenverbänden und eines der Ergebnisse der dritten Phase der Islamkonferenz, ist selbst bei deren eigenen Mitgliedern auf Lokal- und Regionalebene, teilweise sogar in den Zentralen nicht bekannt. Dabei könnte diese Institution eine wichtige Rolle einnehmen.
Das muslimisch-soziale Leben findet auf lokaler Ebene statt, mit viel Engagement, viel Ehrenamt und einem großen Bedarf an Konzepten und Vernetzungsmöglichkeiten. Die Wenigsten der neu entstandenen Institutionen schaffen es, neben all ihrer Arbeit mitzubekommen, dass es auch andere Akteure in ihrer Region gibt, mit denen sie sich austauschen oder zusammenarbeiten könnten. Immer wieder müssen sie das Rad vor Ort neu erfinden, oft fehlt es ihnen an passenden Qualifizierungsformaten. „Ich habe fast hundert Mitarbeiter, die ich zielgruppenspezifisch für unsere Klienten fortbilden muss, ich finde aber keine passenden Anbieter“, beschreibt ein Pflegedienstanbieter aus dem Ruhrgebiet seinen Bedarf bei der Pflege von mehrheitlich muslimischen Klienten.
Diese Beispiele machen deutlich, dass es nicht ausreicht, zu sagen, „die Tore zum Wohlfahrtssystem sind auch für muslimische Anbieter offen“. Denn es sind keine Gleichen unter Gleichen, die in das System eintreten sollen. Wir haben es zwar mit engagierten, aber auch relativ jungen Einrichtungen zu tun, die neben ihrer praktischen Arbeit auch konzeptionelle und inhaltliche Pionierarbeit leisten müssen.
Dies wäre einer der Bereiche, die in der neuen Auflage der Islamkonferenz, auch als Lehre aus der letzten, berücksichtigt werden müssten. Die Konferenz kann dabei helfen, die Träger vor Ort, die etwas leisten wollen, mit denen zusammenzubringen, die dieses Engagement unterstützen wollen – mit Förderprogrammträgern, mit Stiftungen und mit Verantwortungsträgern in der kommunalen Verwaltung und Politik. Die strukturelle Öffnung vor Ort kann jedoch nur dann funktionieren, wenn die Träger, die moscheenahen genauso wie die eigenständigen, in ihrer Institutionalisierung und ihrer Fachlichkeit fach- und trägerspezifisch qualifiziert werden.
Bei der Zusammensetzung der Konferenz gilt es zu berücksichtigen, dass sich die muslimische Basis mittlerweile neu formiert hat. Weiterhin müssen die muslimischen Gemeinschaften einbezogen werden und sich am Diskurs beteiligen. Es gibt aber auch immer mehr Akteure auf lokaler und regionaler Ebene, die mit eigenem Sachverstand und Zielgruppenzugang bereits jetzt schon nachhaltige Wirkung auf die muslimische Community und die Zivilgesellschaft haben. Die große Herausforderung wird darin liegen, für diese dezentralen und landesweit verteilten Initiativen Möglichkeiten zum Austausch, zur Vernetzung und zur Zusammenarbeit zu schaffen. Das wird die Islamkonferenz von sich aus nicht schaffen können, zumal sie sich damit dem Vorwurf der Übergriffigkeit aussetzen würde. Wie so etwas gelingen kann, das kann und sollte in der Konferenz gemeinsam diskutiert werden.
Engin Karahan wurde 1979 geboren und war über zehn Jahre in muslimischen Migrantenselbstorganisationen (MSO) für den Bereich Öffentlichkeitsarbeit, Organisationsmanagement und Religionsverfassungsrecht zuständig. Unter anderem war er in diesen Funktionen an der ersten und dritten Deutschen Islamkonferenz des Bundesinnenministeriums und dem Dialogforum Islam des Landes Nordrhein-Westfalen beteiligt. Karahan ist Gründungs-und Beiratsmitglied der Alhambra Gesellschaft e.V.