Beitrag in der aktuellen Ausgabe vom „Journal für Politische Bildung“ (Ausgabe 3/2024)
In Deutschland gibt es noch immer viel zu wenige Orte, an denen Musliminnen als eigenständige Akteurinnen und unabhängig von verbandspolitischen Vorgaben – die zumeist auch noch durch Herkunftsgesellschaften geprägt sind – Gespräche über innermuslimische, gesellschaftliche und politische Fragen offen, selbstbewusst und ohne Befürchtung vor Ausgrenzung führen zu können. Gemeint sind Foren, wo darüber nachgedacht werden kann, was eine Beheimatung in einer pluralen und multireligiösen Gesellschaft ausmacht und wie man sich für eine Einwanderungsgesellschaft engagieren kann, die frei von Diskriminierung und Marginalisierung ist und in der die Achtung der Menschenwürde gelebt wird. Solche Räume und Orte werden vor allem von kleineren Initiativen, Vereinen und Gruppierungen geschaffen, in denen sich Menschen zusammenfinden, die den eigenen Glauben in einer vielfältigen Gesellschaft leben wollen, den „großen“ Verbänden gegenüber aber eine kritische und distanzierte Haltung einnehmen.
Eine dieser Initiativen ist die 2017 gegründete Alhambra Gesellschaft e. V., die sich mit ihren Angeboten als ein Akteur der politischen Bildung versteht. Sie hat von 2020 bis 2022 ein Projekt unter dem Titel MuslimDebate durchgeführt, das unterschiedlichen muslimischen Akteurinnen ein Forum zum Austausch eröffnete, um aktuelle Herausforderungen der muslimischen Community in Deutschland zu thematisieren. In einer Kombination von nicht-öffentlichen Workshops und einer öffentlichen Veranstaltungsreihe wurden Themen wie Antisemitismus unter Musliminnen, Ausgrenzungserfahrungen innerhalb der muslimischen Community, das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Religion, religiös-extremistische Ansprachen in Sozialen Medien, die Schritte vom „Gastarbeiter“ zum deutschen Bürger und über den Status des Islam als Religionsgemeinschaft aufgegriffen und neue Impulse für die innermuslimischen Debatten gegeben. Wie die politische Bildungsarbeit anderer Akteur*innen mussten unter den Bedingungen von Corona auch die Angebote des Projekts in den digitalen Raum verlegt werden. Dennoch ist es gelungen, durch die Aufzeichnung digital geführter Gespräche und die Publikation von Handreichungen innermuslimische Diskurse für die Gesellschaft sichtbarer zu machen.
Seine Fortsetzung fand das Projekt unter der Überschrift MuslimDebate 2.0, das ebenfalls vom Bundesministerium des Innern und für Heimat im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz gefördert wird. Ambitioniertes Ziel ist es nun, muslimische und nicht-muslimische Akteurinnen miteinander ins Gespräch zu bringen. Die bewährte Projektstruktur wurde fortgeführt, doch zu den Workshops wurden Akteurinnen aus muslimischen und nicht-muslimischen Gruppen eingeladen, um für die Debatten muslimische, jüdische, christliche und nicht-religiöse Perspektiven fruchtbar zu machen. Denn die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen betrifft alle Menschen unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund und es kommt aus Sicht des Projekts darauf an, auf der Grundlage der jeweiligen Orientierungen miteinander über eine Bewältigung der vielfältigen Herausforderungen ins Gespräch zu kommen. Es geht auch darum, muslimische Akteur*innen für gesellschaftliche Debatten sprechfähig zu machen und ihnen Zugänge und Beteiligungsmöglichkeiten aufzuzeigen, um eigene Positionen zu artikulieren und Lösungsvorschläge zur Sprache zu bringen.
In der politischen Kultur der Bundesrepublik hat der Begriff der Erinnerungskultur einen enormen Stellenwert. Die ersten Gedanken gelten der Shoa, den Verbrechen während der Diktatur des Nationalsozialismus, eventuell noch den Gewalterfahrungen während der SED-Diktatur. Doch in einer Einwanderungsgesellschaft ist die Frage naheliegend, welche Gewalterfahrungen ‚bringen‘ die Migrantinnen mit bzw. welchen Gewalterfahrungen waren sie im Zuwanderungsland ausgesetzt. Überlegungen nach der Notwendigkeit einer ‚erweiterten‘ Erinnerungskultur wurde in einem ersten Workshop mit dem Thema „30 Jahre Sivas – 30 Jahre Solingen“ thematisiert. Während eines alevitischen Kulturfestivals 1993 in Sivas wurde von Nationalisten ein Brandanschlag auf ein Hotel, in dem die alevitischen Künstler logierten, verübt. Mehr als 35 Menschen wurden Opfer des Pogroms. Ebenfalls 1993 erfolgte in Solingen ein Brandanschlag auf ein von einer türkischen Familie bewohntes Haus, dem fünf Menschen zum Opfer fielen. An der Tagung nahmen alevitische und sunnitische zivilgesellschaftliche Akteurinnen teil. Sich wechselseitig zuzuhören gelang, aber es wurde auch sehr deutlich, dass noch viele Schritte hin zu einem gemeinsamen Erinnern zu gehen sind. Offenkundig wurde, dass es in der Erinnerungsarbeit elementar ist zu fragen, wer mit wem an was erinnert und wessen Erinnerungen gar übergangen werden. Wie kann es gelingen, dass die einen über den Schmerz der anderen mittrauern?
Ein zweiter Workshop befasste sich mit dem Thema ‚Demokratiefeindlichkeit – Zwischen Verschwörungsideologien und Desinformation‘. Inhaltliche Schwerpunkte waren die Fragen nach Akteuren, Strategien und Mechanismen des Rechtsextremismus, nach Verschwörungsideologien und Demokratiefeindlichkeit in muslimischen Milieus und nach der Bedrohung jüdischen Lebens in Deutschland durch extreme Rechte. Am Anfang der Diskussionen stand die These einer Krise der Demokratie und die Diagnose eines gesellschaftlichen Rechtsrucks. Jedoch wurde diese Diagnose mit dem Hinweis ergänzt, dass wir gegenwärtig in einer Polykrise leben: inflationsbedingte ökonomische Krise, die Klimakrisen, eine Nach-Corona Krise, der russische Krieg gegen die Ukraine, der Krieg in Gaza und Israel. Krisen seien immer ein fruchtbarer Nährboden für die Entstehung von Verschwörungsideologien und Desinformationen. Zur Situationsbeschreibung gehörte auch, dass in einer Umfrage 25 % der Befragten meinten, dass wir in Deutschland nicht mehr in einer Demokratie leben. Ein großer Teil der Menschen stelle die Glaubwürdigkeit von Medien in Frage und spreche pauschal von einer Lügenpresse. Dramatisch sei, dass ca. 60 % der Befragten keiner der Parteien eine Lösung dieser Probleme zutrauen.
Die weiteren Debatten konzentrierten sich u. a. darauf, Möglichkeiten zu eruieren, mit Menschen, die Verschwörungserzählungen verbreiten, ins Gespräch zu kommen bzw. sensibel zu sein, wenn Menschen drohen, in diese abzudriften. Ein eigener Gesprächsgang beschäftigte sich mit dem Überfall der Hamas auf Israel und dem in der Folge des sich anschließenden Kriegs massiv anwachsenden Antisemitismus. In diesem Zusammenhang wurde auch darauf verwiesen, dass in der Geschichte der Bundesrepublik von prominenten Akteuren immer wieder antisemitische, rassistische und rechtspopulistische Positionen artikuliert worden sind, dass also ein solches Gedankengut in der Gesellschaft immer virulent ist. Schließlich wurde betont, dass Demokratie nicht einfach gegeben ist, sondern Engagement und Arbeit erfordere. Sie sei ein dynamisches, immer in Bewegung befindliches System, das wahrscheinlich nie das Stadium seiner Vollkommenheit erreichen wird.
Ein dritter Workshop widmete sich dem Thema Religionspolitik und fragte nach den Grundlagen einer zukunftsfähigen Religionspolitik in der multireligiösen Gesellschaft Deutschlands. Gerade die aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten haben die Relevanz von Religion in Politik und im gesellschaftlichen Zusammenleben, bei der Begründung und der Bewältigung von Konflikten wieder neu auf die Agenda gesetzt. Religionspolitik könne sich nicht nur mit den integrativen oder destruktiven Aspekten von Religion befassen, sondern müsse die Stärkung religiöser Mündigkeit, die Möglichkeit eines selbstbewussten Lebens von Religiosität und die Gelegenheiten zur Herausbildung religiöser Identitäten in den Blick nehmen. Diskutiert wurde über das Integrationspotenzial von Religionen, über implizit politische und soziale Wirkungen von Religionen, über die Ausbildung der Geistlichen der verschiedenen Religionen, die Rahmenbedingungen zur Gestaltung des Religionsunterrichts in einer multireligiösen jedoch immer mehr a-religiösen Gesellschaft und über die Rolle von Religion in der Politik. Die Debatten zeigten auf der einen Seite, dass noch erhebliche Herausforderungen zu bewältigen sind, bis alle Religionsgemeinschaften in Deutschland eine gesellschaftlich und rechtlich gleiche Anerkennung erlangt haben und dass auf der anderen Seite bewusst sein muss, dass Religionen nicht ins Private, in Hinterhöfe oder in Randbezirke abgedrängt werden, sondern immer auch öffentliche Angelegenheiten sind und damit eminent politisch sein können.
Gerade der zweite Aspekt wird im Herbst d.J. in einem nächsten Workshop intensiv bearbeitet. Im Zentrum steht die Frage, wie es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten von Krisen bestellt ist und welchen Beitrag die Religionen dazu leisten können.
Die Alhambra Gesellschaft leistet mit diesem Projekt einen eminent wichtigen Beitrag zur politischen Kultur in der Einwanderungsgesellschaft der Bundesrepublik. Wichtig wäre, dass es noch mehr gelänge, muslimische und nicht-muslimische Akteur*innen in einen offenen Diskurs einzubeziehen, die sich eher separatistischen Strömungen in der muslimischen Community zurechnen und sich stark auf die Herkunftsgesellschaften beziehen.
Klaus Waldmann, Berlin